Demokratie im Betrieb – ein Praxisbeispiel

Mitbestimmung ist kein Mysterium. Aber sie erfordert manchmal Kreativität. Die Rechtsform der Genossenschaft bietet dafür viele Möglichkeiten. Die Otelo eGen zeigt, was damit alles geht.

Blogbeitrag von Andreas Exner

Sommer 2015, Wien.

Ich bin auf der Suche nach demokratischen Unternehmen.

Südwind hat mich mit einer Studie zu Solidarischer Ökonomie in Österreich beauftragt. Die Studie ist Teil eines EU-Projekts. Länder im Süden wie im Norden werden dabei untersucht. Ich gehöre zu einer kleinen Forschungsgruppe, die von Südwind koordiniert wird. In Österreich führe ich die Interviews, Bernhard Leubolt tut das in Brasilien. Stephan Hochleithner, ein Anthropologe, dreht Videoclips über Intersol, eine NGO in Salzburg, und über die Gruppe Solidarische Landwirtschaft in Wien.

Während ich in ganz Österreich verschiedene Menschen treffe, um zu erfahren, wie sie Solidarische Ökonomie verstehen, sitzt Bernhard Leubolt in Brasilien dem Staatssekretär für Solidarische Ökonomie Paul Singer und Mitgliedern von Müllsammelkollektiven gegenüber. Da sagt Paul Singer den bezeichnenden Satz: „Die Essenz Solidarischer Ökonomie ist die Demokratie“.

Wie wahr.

Aber wie sieht das aus: Demokratie im Unternehmen?

Beziehung contra Wirtschaft?

Eine, mit der ich im Sommer 2015 darüber spreche, kennt diese Demokratie von Innen. Sie hat die Genossenschaft Otelo mit begründet.

Wir befinden uns im schattigen Durchgang eines kleinen Lokals. Wir sind fast allein. Der Sommer wartet draußen, im heißen Licht der Straße, während ich ein Getränk bestelle. Ein Ort, der spricht. Das Lokal gehört zur Sargfabrik, selbst ein Beispiel Solidarischer Ökonomie. Ein kollektives Wohnprojekt. Das größte seiner Art in Österreich. „Luxus für alle“, so könnte das Motto der Sargfabrik wohl lauten.

Das ist indes nicht, weshalb ich hier bin. Ich will etwas anderes erfahren. Mich interessiert, wie Otelo funktioniert.

Meine Gesprächspartnerin holt weit aus, schildert ihre beruflichen Vorerfahrungen. Sie erzählt: Das Diktat der Kosteneinsparung macht Menschen unglücklich. Sie erinnert sich, wie sie Menschen gegenüber gesessen ist, die wirtschaftliche Entscheidungen gegen ihren eigenen Willen treffen mussten. Wo Beziehungen gegen Wirtschaft stehen, Gefühle gegen Kalkulation. Sie wollte neue Wege gehen und begann sich deshalb mit Genossenschaften zu beschäftigen.

Intelligent kooperieren

Die Otelo Genossenschaft wurde von Menschen gegründet, die vielleicht sonst als Ich-AGs ihr Auskommen finden müssten: vereinzelt, überarbeitet, prekarisiert. Sie hat sich aus den Offenen Technologielaboren heraus entwickelt, die abgekürzt Otelo heißen. Dort arbeiten Menschen projektbasiert und zugleich gemeinschaftlich. Das kooperative Wirtschaften in den Otelo Laboren mit viel Austausch und Zusammenarbeit auf Augenhöhe führt immer wieder zu Ideen, die vermarktet werden können. Die Genossenschaft eignet sich optimal dafür, solche Ideen in einem gemeinschaftlichem Unternehmen weiter zu entwickeln. Das war der Hintergrund.

2015 hatte die Otelo Genossenschaft rund 10 Mitglieder. Das hat sich nicht geändert, sehe ich auf der Website. Das Prinzip: Nicht in den Himmel wachsen, sondern wirtschaften mit Maß. Das Ziel: Sich wechselseitig unterstützen, in der eigenen Entwicklung gemeinsam vorwärtskommen.

Die Otelo Genossenschaft bietet verschiedene Dienstleistungen an: Beratung, Bildung, Gestaltung, Entwicklung. Das Besondere dabei: Die Mitglieder sind Unternehmer_innen und zugleich angestellt. So behalten sie die Freiheit, kreativ und flexibel tätig zu sein. Und gewinnen die soziale Sicherheit dazu, die ein Angestelltenverhältnis bietet. Darüberhinaus wirken die Einnahmen der Firma auch als Puffer, wenn die Auftragslage bei einem Mitglied einmal schlechter aussieht.

Das Beste aus zwei Welten

Eine ungewöhnliche Doppelrolle, erläutert meine Gesprächspartnerin: „Einmal bin ich weisungsgebunden angestellt, einmal bin ich Unternehmerin und Mitentscheiderin“. Genau das vereint jedoch das Beste aus zwei Welten. Das geht dann so: Die Rechnung für Aufträge an die Genossenschaft stellt die Firma. Die Einnahmen werden am Konto der Genossenschaft verbucht. Es gibt Profit Centers um zu erfassen wo welche Umsätze erwirtschaftet werden, woran sich auch die Lohnauszahlung orientiert. Die Projekte der Mitglieder sind so genannten Labels zugeordnet. Gearbeitet wird im Team oder allein.

Die Bezahlung unterscheidet sich nach Alter, Erfahrung und Tätigkeitsbereich. Die Otelo Genossenschaft orientiert sich dabei am Kollektivvertrag der Unternehmensberater_innen. Das klingt recht konventionell. Dennoch schlägt das Unternehmen neue Wege ein. Denn es richtet sich genossenschaftlich aus:

„Wichtig ist, dass es den Mitgliedern gut geht und die sich gut entwickeln. Der Fokus ist, was wollen wir anbieten am Markt, dass gleichzeitig auch die Leut ihr Potenzial gut umsetzen können und sich weiter entwickeln können. Also man wird nicht so eingesperrt: ‚Okay du bist angestellt als Filmemacher und musst das bleiben, weil damit verdienen wir grad soviel‘. Wenn jemand bei einem anderen Projekt mitmachen will, weil‘s ihn grad interessiert, macht er das. Was die Leut wirklich machen wollen ist ein ganz wichtiger Entscheidungsfokus. Der Mensch rückt viel mehr in den Mittelpunkt. Das ist auch bei Genossenschaften wichtig: die Förderung der Mitglieder ist zentral. Weniger, dass wir ganz viel Geld verdienen, wir verdienen auch ganz gut, aber das ist nicht, was uns antreibt.“

Struktur braucht Kultur

Die weitreichende Mitbestimmung erfordert eine darauf abgestimmte Organisation. Von allein geht das nicht. Die Agenden der Geschäftsführung werden alle sechs Wochen in Koordinationstreffen abgestimmt, alternierend dazu gibt es ein Treffen zu sozialen Themen. Dabei kommt zur Sprache, wie es den Mitgliedern mit der Arbeit und miteinander geht. Zusätzlich gibt es Supervision.

Doch die ausgeklügelte Struktur der Organisation ist nicht das ganze Erfolgsrezept. Es braucht dazu noch eine bestimmte, demokratische Beziehungskultur:

„Es ist ein sich miteinander Stützen, solidarisch Fördern, ich glaub, was ganz wichtig ist, das gehört dazu: wenn du‘s enger aneinander knüpfst, wie‘s wir haben, Unternehmen und Angestelltsein, sind wir sehr voneinander abhängig, es gibt eine starke Verknüpfung. Mich interessiert wie‘s den anderen geht. Mich interessiert wie‘s anderen Menschen geht, aber noch viel mehr wie‘s meinem Kollegen geht. Wenn ein Auftrag flöten gegangen ist, fühl ich mich sehr mitverantwortlich, dass er wieder was Gutes finden, dass er das finden kann, was ihm Spaß macht. Das Miteinandersorgen ist viel stärker.“

Und jetzt?

Ich lasse das Interview in der Sargfabrik noch einmal Revue passieren. Das liegt jetzt fünf Jahre zurück.

Solidarökonomisches Wohnprojekt Sargfabrik, Kant_ine Vier Zehn, Wien. Quelle: Haeferl, Wikipedia, CC BY-SA 3.0

In jenem Sommer vor fünf Jahren traf ich Wissenschafterinnen, Ministeriumsmitarbeiter, Aktivisten aus NGOs und aus sozialen Bewegungen. Ich sprach mit alten und mit jungen Menschen. Mit Katholiken und mit Anarchisten. Während mir manche mit Anzug und Krawatte gegenübersaßen, war ich mit anderen am Balkon daheim. Vom politischen Alternativlokal bis zum noblen Caféhaus in der Wiener Innenstadt – die Orte, an denen ich damals Gespräche zu Solidarischer Ökonomie führen durfte, spiegeln auch ihre Vielfalt wider.

Die Welt ist inzwischen eine andere geworden.

Die Solidarische Ökonomie gibt es noch immer – und sie wächst. Aber zugleich nehmen auch die Herausforderungen zu. Mir stehen die Schwierigkeiten der Ein-Personen-Unternehmen vor Augen. Viele davon mussten schon vor COVID-19 an der Armutsgrenze wirtschaften. Und jetzt? Keine Aufträge. Keine Einnahmen. Keine Sicherheiten. Keine Lobby. Zu wenig Kooperation, zu viel Vereinzelung, zu wenig Rückhalt.

Eine Genossenschaft wie Otelo könnte dabei helfen, die größten Widrigkeiten besser zu überstehen.

Zum Glück macht diese Idee seit ein paar Jahren schon die Runde. So hat Otelo dabei geholfen, eine weitere Beschäftigungsgenossenschaft in Ottensheim zu gründen. Die Inrego eGen. Und seit 2018 entstand die Genossenschaft Lekton, die Grafikdesigner_innen und Software-Entwickler zusammenbringt. Schon 2015 gründete sich auch die Genossenschaft Smart für Künstler_innen, Kreative und Neue Selbstständige.

Smart hat einen Corona-Plan erstellt.

Solidarität wirkt.

Zum Weiterlesen (mit allen Zitaten zu Otelo): Exner, A. (2015): Solidarische Ökonomie in Österreich. Download hier.

Ergänzender Bildnachweis: Badehaus, solidarökonomisches Wohnprojekt Sargfabrik, Wien. Quelle: Haeferl, Wikipedia, CC BY-SA 3.0