Kooperativen kooperieren: Die Meso-Ebene Solidarischer Ökonomie

Demokratie und Solidarität machen nicht an den Betriebstoren Halt. Kooperativen kooperieren auch solidarisch miteinander. Durch Vernetzung werden Solidarische Ökonomien stark.

Wir haben in den letzten Wochen in einigen Blogbeiträgen erklärt, wie Solidarische Ökonomien auf der Nano- und Mikro-Ebene funktionieren. Solidarökonomische Betriebe oder Haushalte organisieren sich demokratisch (Nano-Ebene). Und sie binden Stakeholder demokratisch in ihre Entscheidungsfindung ein (Mikro-Ebene). Doch bleibt die Demokratie in Solidarischen Ökonomien dabei nicht stehen. Auf dem Weg zu einer Solidarischen Ökonomie kooperieren Genossenschaften auch genossenschaftlich miteinander; und Haushalte unterstützen sich in Form von Nachbarschaftshilfe wechselseitig oder bilden größere Lebensgemeinschaften.

Erst auf dieser Meso-Ebene wird die größere Perspektive Solidarischer Ökonomie wirklich sichtbar: die Transformation von einer konkurrenzgetriebenen Marktwirtschaft zu einer Ökonomie menschlicher Beziehung.

Die Kooperation zwischen Genossenschaften

Die Kooperation von Kooperativen ist eine alte Genossenschaftsidee.

Sie ist auch das sechste Prinzip des internationalen Dachverbands der Genossenschaften, der ICA. Es lautet „Kooperation zwischen Genossenschaften“, das heißt: „Genossenschaften dienen ihren Mitgliedern am effektivsten und stärken dabei die Genossenschaftsbewegung, indem sie in lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Strukturen zusammenarbeiten.“ Dieses Prinzip ist zunächst einmal sehr allgemein formuliert. Denn diese Zusammenarbeit kann verschiedene Formen annehmen.

Genossenschaften können etwa in Prüf- und Dachverbänden kooperieren. In Österreich zum Beispiel gibt es fünf Prüfverbände, darunter den Raiffeisenverband, den Österreichischen Genossenschaftsverband und den Verband Rückenwind. Sie analysieren das Geschäftsmodell, wenn eine Genossenschaft gegründet werden soll, kontrollieren die Jahresbilanzen, beraten und vertreten die allgemeinen Interessen von Genossenschaften nach Außen. Auch in anderen Ländern spielen Dachverbände von Genossenschaften eine wichtige Rolle. Sie helfen mit die Genossenschaftsprinzipien lebendig zu halten und verbreiten die Genossenschaftsidee. In Italien verfügen genossenschaftliche Dachverbände sogar über finanzielle Mittel um Betriebsübernahmen durch Belegschaften zu unterstützen. Gesetzliche Grundlage dafür ist das Marcora-Gesetz. Es wurde in den 1980er Jahren von Genossenschaftsverbänden und Gewerkschaften entwickelt um zur Lösung der damaligen Wirtschaftskrise beizutragen und vom Christdemokraten Giovanni Marcora, damals Industrieminister, erlassen.

Prüf- und Dachverbände sind aber nur ein Aspekt der Kooperation von Kooperativen, das heißt von solidarökonomischen Genossenschaften. Er betrifft eher die politischen und rechtlichen Angelegenheiten. Mindestens ebenso wichtig ist aber die ökonomische Zusammenarbeit. Das heißt, dass Genossenschaften vor allem bei anderen Genossenschaften einkaufen und hauptsächlich Genossenschaften beliefern.

Denn das grundlegende Genossenschaftsprinzip der Mitgliederförderung verträgt sich nicht oder nur mit erheblichen Abstrichen mit einem konkurrenzgetriebenen Markt. Am Markt nehmen Menschen aufeinander keine Rücksicht. Der Stärkere gewinnt. Genossenschaften bauen aber gerade darauf, dass Menschen aufeinander achten und Rücksicht nehmen. Sie beruhen auf dem Motto: „Was eine oder einer allein nicht schafft, das schaffen viele!“ Das heißt, es geht um Selbsthilfe der Schwachen durch Solidarität. Und das heißt letztlich eben auch: „Was eine Genossenschaft allein nicht schafft, das schaffen viele!“ Anstatt am Markt gegeneinander zu konkurrieren, zielen solidarökonomische Genossenschaften auf Kooperation.

Beziehungen anstelle von Marktkonkurrenz

Damit die Bedürfnisse der Mitglieder einer solidarökonomischen Organisation im Zentrum stehen können, braucht es Demokratie. Eine Demokratie, die mehr ist als das „Abgeben der Stimme“, beruht auf sozialen Beziehungen, nicht auf Marktverhältnissen. Kaufen und Verkaufen machen keine Demokratie. Wenn Menschen demokratisch eine Entscheidung treffen, so tun sie etwas anderes als mit ihrer Zahlungsfähigkeit „abzustimmen“. Eine demokratische Entscheidung beruht vielmehr auf einer offenen Diskussion von Problemen. Verschiedene Lösungsansätze werden dabei entwickelt. Menschen handeln aus, welcher Ansatz umgesetzt werden soll. Demokratie ist eine zutiefst kollektive Angelegenheit, nicht nur ein individueller Wahlakt.

Voraussetzung von Demokratie ist, dass Menschen untereinander soziale Beziehungen eingehen.

Demokratische Beziehungen sind ein Ausdruck von Solidarität.

Deshalb gilt in Genossenschaften neben dem Prinzip der Mitgliederförderung und der Demokratie auch das Solidaritätsprinzip. Dazu kommt noch das Prinzip der Identität von Rollen, die der Markt andernfalls voneinander trennt und konflikthaft gegenüber stellt: In einer Genossenschaft sind Verkäufer_innen und Käufer_innen die gleichen Personen, oder Kapitalgeber_innen und Arbeitende, Kreditnehmer_innen und Schuldner_innen oder Mieter_innen und Vermieter_innen. Das wird als Identitätsprinzip bezeichnet. Im Zusammenspiel der Prinzipien Mitgliederförderung, Demokratie, Identität und Solidarität drängen Solidarische Ökonomien das Tauschprinzip von Ware gegen Geld zurück ‒ und damit auch die Marktkonkurrenz.

Auf diese Weise kann eine Ökonomie der Beziehungen entstehen.

Putztag im Kibbutz Merchavia, Aufnahme zwischen 1950 und 1960. Quelle: CC BY 2.5 Wikipedia

Ökonomische Kooperation ist notwendig

Es gibt ein altes Vorurteil gegenüber Genossenschaften: Wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sind, werden sie zu kapitalistischen Unternehmen ohne Demokratie; und wenn sie demokratisch bleiben, verschwinden sie vom Markt. Dahinter steht die Vorstellung, dass nur ein einziger Entwicklungsweg für Genossenschaften existiert. Entweder sie beugen sich der Marktkonkurrenz, dann müssen sie auf langwierige Diskussionen verzichten und letztlich operieren wie ein kapitalistisches Unternehmen. Oder sie halten die demokratischen Ideale hoch. In diesem Fall büßen sie an Konkurrenzfähigkeit ein, weil sie diskutieren, während ein anderer Betrieb produziert.

Empirische Studien zeigen, dass Genossenschaften beides sein können: demokratisch und konkurrenzfähig. Allerdings ist das in der Tat ein Widerspruch. Denn die Demokratie gründet letztlich auf sozialen Beziehungen der Solidarität. Die Marktkonkurrenz ist jedoch das genaue Gegenteil davon. Hier gibt es keine Beziehungen, und damit auch keine Solidarität. Es ist daher eine besondere Herausforderung für Solidarische Ökonomien – vor allem wenn sie für einen konkurrenzgetriebenen Markt produzieren – die interne Demokratie lebendig zu halten.

Aus diesem Grund sind Solidarische Ökonomien immer davon bedroht, zu kapitalistischen Unternehmen zu degenerieren. Die Mitglieder einer Genossenschaft müssen sich andauernd und aktiv darum bemühen, die Genossenschaftsprinzipien mit Leben zu erfüllen und mit dem Markt zu balancieren.

Dieser Balanceakt ist kein wünschenswerter Zustand. Zwar verschwindet die Demokratie in Genossenschaften nicht zwangsläufig unter den Bedingungen der Marktkonkurrenz. Aber der Markt begrenzt das demokratische Potenzial von Genossenschaften deutlich. Außerdem führt die Marktkonkurrenz zu paradoxen Effekten. So konkurrieren etwa in manchen Regionen der USA Solidarische Landwirtschaften gegeneinander. Das schwächt letztlich auch die Solidarität nach Innen. Im Rahmen eines Unternehmens miteinander solidarisch umzugehen, aber sich nicht um andere Unternehmen zu kümmern, ist ein Widerspruch, der schmerzt.

Ansätze auf der Meso-Ebene

Dieser Widerspruch hat eine einfache Lösung: Genossenschaften müssen miteinander kooperieren.

Sie behandeln sich dann nicht wie anonyme Marktteilnehmer_innen, sondern als ebenbürtige Partner_innen, die gemeinsam Lösungen finden und kollektive Strukturen der Kooperation entwickeln. Das kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Zum Beispiel können Genossenschaften gerechte Preise untereinander ausverhandeln. Sie können die Konkurrenz bewusst einschränken. Und sie können größere Netzwerke bilden, in denen sie sich wechselseitig unterstützen. Sie können sogar dazu übergehen, nicht mehr in Preisen zu rechnen. Oder sie tun dies nur mehr der Form halber, solange sie für einen Markt produzieren.

Ein solidarökonomisches Netzwerk, das oft als Beispiel für das Potenzial Solidarischer Ökonomien herangezogen wird, ist die Mondragón Corporación Cooperativa (MCC), ein sehr großer Komplex von Genossenschaften im spanischen Baskenland, der 1956 entstanden ist. Auch die Kibbutz-Bewegung in Israel kann bis in die 1970er Jahre als Beispiel für Kooperation auf der Meso-Ebene gelten. Mit Einschränkungen gilt das noch heute. Bekannter ist allerdings ein anderes Beispiel dafür, nämlich Fair Trade. Solidarische Handelsbeziehungen zwischen Süd und Nord wurden zunächst vor allem von Genossenschaften getragen. Auch heute noch sind diejenigen Initiativen für Fair Trade, die den Produzierenden am meisten nützen, Teil übergreifender Solidarischer Ökonomien. Solidarische Netzwerke kooperieren in der Vermarktung. Auf diese Art können einzelne Betriebe sich gegen die Marktkonkurrenz zusammenschließen und einander fördern. In den letzten Jahren sind zudem solidarökonomische Produktionsketten entstanden. Dabei bilden einzelne Genossenschaften eine ganze Wertschöpfungskette vom Rohmaterial bis zum Endprodukt. Bekannt dafür ist die Kette Justa Trama in Brasilien. Grundsätzlich könnten alle Produkte über Solidarische Produktionsketten hergestellt werden. Und es gibt immer wieder erfolgreiche Beispiele für Schritte in diese Richtung.

Auswahl an Produkten des fairen Handels, Beispiel Transfair. Quelle: Wikipedia

Eine Solidarische Ökonomie bettet das wirtschaftliche Handeln wieder in Beziehungen ein. An die Stelle eines sozial rücksichtslosen Marktes tritt die Demokratie. Demokratische Beziehungen sind die Grundlage dafür, Bedürfnisse solidarisch auszuhandeln: Was soll produziert werden, in welchen Mengen, wie, von wem und für wen? Das geschieht auf der Meso-Ebene Solidarischer Ökonomie. Die Kooperation zwischen Kooperativen stärkt ihrerseits die Demokratie im Unternehmen. Sie gibt ihr einen weiteren Sinn und eine politische Perspektive.

Auf der Meso-Ebene bleibt auf dem Weg der sozial-ökologischen Transformation noch viel zu tun. Letzlich muss diese Transformation darauf abzielen, eine Solidarische Ökonomie von Solidarischen Ökonomien aufzubauen. Je mehr sich Menschen bewusst und kollektiv darüber austauschen, was sie eigentlich brauchen, desto unwichtiger werden Markt und Staat. Und umso tragfähiger und umfassender wird eine Solidarische Ökonomie.

Der nächste Blogbeitrag wird zeigen, wie Kooperativen konkret miteinander kooperieren.

Zusätzlicher Bildnachweis: Beitragsbild, Hütte aus dem zapatistischen Caracol Resistencia y Rebeldía por la Humanidad in Chiapas (Mexiko)‎, von ProtoplasmaKid via Wikipedia, CC BY-SA 4.0