Danko Simić
Dieses Video (siehe unten) habe ich am 3. September 2018 aufgenommen, als ich bei einem Roadtrip durch die Ukraine nach Kyjiw zurückkehrte. Im Video sieht man eine der großen Zufahrtstraßen zur Stadt vom Westen her: eine typische Straße in einer europäischen Hauptstadt, hektisch, überfüllt und gekennzeichnet durch schlechte Luftqualität. Fotos von solchen Zufahrtstraßen gingen in den letzten Tagen um die Welt, aber diesmal als Ausfahrtsstraßen.[1] Die Fahrstreifen, die in die Stadt führen, blieben fast leer. Der Krieg in der Ukraine hat viele von uns sprachlos gemacht, aber es ist wichtig zu handeln – jetzt! Ich teile daher ein paar Gedanken, die sich aus Gesprächen mit Freund:innen in der Ukraine und andernorts ergeben haben. Damit will ich verschiedene, jedoch miteinander zusammenhängende Aspekte sichtbar machen und Möglichkeiten der Auseinandersetzung aufzeigen.
Die Dinge beim Namen nennen: Massenmedien weltweit sind voll von Berichten zur gegenwärtigen „Situation“ in der Ukraine und zum dortigen „Konflikt“. Es handelt sich nicht um eine Situation und nicht um einen Konflikt. Russland verteidigt nicht sein eigenes Territorium, Russland schützt nicht die Menschen im Donbas. Es ist Krieg! Es ist Putins Invasion und Putins Aggression gegen die Souveränität und Integrität der Ukraine, aller Menschen, die in der Ukraine leben und jener, die sich weltweit mit ihnen solidarisieren. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen!
Der Krieg kam nicht überraschend: In den letzten Tagen habe ich wiederholt gehört: „Wer hätte sich so etwas vorstellen können“. Die russische Aggression hat nicht mit der Invasion vor rund einer Woche begonnen. Russland interveniert schon seit Jahrzehnten nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern der Region. Tatsache ist, dass Putin den Krieg mit der Invasion in der Ukraine begonnen hat. Allerdings müssen wir auch danach fragen, welche Verantwortung die Europäische Union, die NATO, die USA, China, und andere Weltmächte für die Destabilisierung tragen, die vor dem Krieg eingesetzt hat. Aber das darf die Invasion nicht rechtfertigen: Es ist Putin, der den Krieg begonnen hat, zusammen mit der politischen und ökonomischen Elite in Russland, die ihn stützt. Diese alten weißen Männer, die den Krieg führen, sind aber nicht jene, die an der Front stehen. Es sind vor allem junge Männer – einige von ihnen sind gerade erst volljährig geworden – die rekrutiert und in die Armee gezwungen werden, als Kanonenfutter! Es sind Zivilist:innen – nicht-binäre Menschen, Frauen und Männer, Alte und Junge – die sich als Freiwillige zur Verteidigung ihrer Leben und unserer gemeinsamen Freiheit melden (müssen). Surreale wirkende Szenen sind zur Lebenswirklichkeit der Menschen in der Ukraine geworden: Wenn sie nicht an der Front kämpfen oder versuchen ihr Land zu verlassen, bereiten sie Molotov Cocktails mit Hilfe von Rezepten, die sie von der Regierung bekommen haben, vor[2] und konstruieren improvisierte Barrikaden, um russische Truppen zurückzuhalten. Diese Menschen sind keine anonymen Nummern in einem Strategiespiel, sie sind Schwestern, Brüder, Cousinen und Cousins, Freund:innen, Töchter und Söhne. Wir müssen uns im Klaren sein, dass diese neuen Lebensrealitäten nicht aus heiterem Himmel gefallen sind. Der Krieg kam nicht überraschend.
Betroffen sein: Die Ukraine hat gemeinsame Grenzen mit vier EU-Ländern, nämlich Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei. Luftschläge wurden aus der westlichsten ukrainischen Großstadt Lwiw berichtet, die sich nur 600 km Luftlinie von Wien entfernt befindet. Obwohl es sich beim Krieg in der Ukraine um den größten Aggressionskrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg handelt, bilden bewaffnete Konflikte, Kriege und Nachkriegs-Situationen die Lebenswirklichkeit vieler Europäer:innen und Menschen auf der ganzen Welt. Die Europäische Union hat bereits die Aufnahme von Vertriebenen aus der Ukraine zugesichert. Was bedeutet dieser Akt der Solidarität für Menschen aus dem Naher Osten, die sich auf der Flucht befinden und seit Wochen und Monaten an der europäischen Peripherie gestrandet sind, illegalen Pushbacks ausgesetzt sind und politisch instrumentalisiert werden, wie etwa in Belarus[3], Griechenland[4], oder in Kroatien[5]? Was bedeutet das für People of Colour, die in diesem Moment rassistische Gewalt an den Grenzen erfahren, während sie versuchen die Ukraine zu verlassen? Tausende Studierende aus Afrika[6] – vor allem aus Marokko, Nigeria und Ägypten – und Studierende aus Asien[7] sind in der Ukraine gefangen und werden an ihrer Flucht gehindert[8]. Welche Folgen wird die russische Invasion noch auf den Rest der Welt haben? Wusstet ihr, dass EUFOR Einsatzkräfte in Bosnien und Herzegowina als „Vorsichtsmaßnahme“ aufgestockt hat?[9] Was bedeutet die gegenwärtige russische Aggression für Transnistrien, Abchasien oder Süd-Ossetien? Für die meisten von uns nicht allzu viel (bislang). Unsere Solidarität scheint Abstufungen entlang physischer und emotionaler Nähe zu den jeweils betroffenen Menschen und Ländern zu machen. Solidarität sollte nicht davon abhängen, wie nahe oder weit entfernt wir von jemandem sind. Kriege und Menschenrechtsverletzungen geschehen nie in einem Vakuum, wir müssen betroffen sein!
Zusammenstehen: Alle Augen sind in den letzten Tagen auf die Ukraine gerichtet. Die Ukraine ist in unseren Wohnzimmern und Tischgesprächen durch Medienberichte und Bilder aus sozialen Medien angekommen. Auf der ganzen Welt werden Denkmäler, Wahrzeichen und symbolträchtige Gebäude in den Landesfarben Blau und Gelb beleuchtet, die auf den klaren Himmel und die goldenen Weizenfelder verweisen[10]. Bürger:innen, Politiker:innen und Künstler:innen in allen Teilen der Welt zeigen ihre Unterstützung. Demonstrationen werden überall organisiert, auch in Russland! Bürger:innen in Russland erheben ihre Stimmen gegen den Krieg und gegen die Entscheidungen ihrer Regierung im ganzen Land. Dabei bringen sie sich in Gefahr verhaftet oder politisch verfolgt zu werden[11]. Russische Wissenschafter:innen verurteilen den Krieg in einem offenen Brief[12]. Oligarchen sprechen sich öffentlich gegen die Aggression aus[13]. Es sind nicht die „Russ:innen”, die den Krieg begonnen haben, es ist Putins Russland. Dennoch liegt es an den fast 150 Millionen Menschen in Russland, ihre Rechte einzufordern und gegen den Krieg aufzustehen. Manchmal frage ich mich: Was kann eine Stimme schon bewirken? Wir werden sehen, wieviel sie bewirken kann, wenn wir sie erheben. Hass wird Hass nicht besiegen. Wir müssen dem Hass mit vereinten Kräften gegen die Aggression begegnen. Es ist Zeit, unsere Stimmen zu erheben und in Solidarität zusammenzustehen!
Waffen für den Frieden: Bei einem lokalen Protest gegen die russische Invasion drängt ein Redner „den Westen“ dazu, Waffen in die Ukraine zu liefern. Die Demonstrierenden unterstützen den Redner mit lautem Applaus, auch ich applaudiere. Ich verstehe die Notwendigkeit. Es lässt mich zusammenzucken: Was mich noch vor einer Woche dazu gebracht hätte, zu protestieren – nämlich Waffenlieferungen – erscheint aus heutiger Perspektive logisch. Ursula von der Leyen hat einen Wendepunkt angekündigt. Die Europäische Union wird Waffen im Gesamtwert von 500 Millionen Euro kaufen und an die Ukraine liefern.[14] Mehrere EU-Mitgliedsstaaten haben bereits Waffen zur Verfügung gestellt. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte eine deutliche Anhebung der Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr an und bezeichnet dies als einen „Trendwende“[15]. Es ist damit zu rechnen, dass auch andere Länder folgen und Budgetmittel für nationale Verteidigungsausgaben umschichten werden. Ist dieser Wendepunkt der Startschuss zu einem neuen Rüstungswettlauf? Waffen und Frieden verhalten sich zueinander indirekt proportional: Mehr Waffen werden keinen Frieden bringen!
Fake news: Während gut informiert zu sein Leben retten kann, werden Informationen und Mediennachrichten auch dazu benutzt das Kriegsgeschehen zu manipulieren[16]. Russische Streitkräfte versuchen die Tätigkeit der Nachrichtendienste zu beeinflussen und umgekehrt. Bevor wir Informationen teilen, vor allem explizite Inhalte, müssen wir verstehen aus welchen Quellen diese Informationen kommen und ihre Glaubwürdigkeit evaluieren. Während Information Leben retten kann, können fake news sie gefährden!
Grüne Atomenergie: Erst vor einem Monat hat die Europäische Union die Taxonomie im Energiebereich verändert, wodurch Atomenergie nun als „grün“ bezeichnet werden kann[17]. Am Montag hat Putin seine Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt[18]. Die Sperrzone und der Sarkophag des Kernkraftwerkes Tschernobyl stehen gegenwärtig unter Kontrolle der russischen Armee[19]. Die Strahlungswerte im Umkreis des Atomkraftwerks sind gestiegen, nachdem radioaktiver Staub aufgewirbelt worden und in die Luft gelangt ist. Es ist noch nicht klar, ob die Schutzhülle während der Kämpfe beschädigt und ob bzw. in welchem Ausmaß radioaktives Material freigesetzt worden ist[20]. Zu wissen, dass derart kritische Infrastruktur sich in den Händen eines Aggressors befindet, lässt mich frösteln. Je mehr Nuklearenergie wir nutzen, desto mehr Atommüll-Deponien werden wir brauchen – Deponien oder “Endlagerstätten”, die nicht so endgültig sind, wie ihre Namen es suggerieren. Atomreaktoren in schlechtem Zustand lassen sich überall in Europa finden, Betriebsfehler können trotz Einsatz moderner Technologien jederzeit auftreten. Was klar zu sein scheint: Tschernobyl beweist – einmal mehr – dass wir aus der Nuklearenergie aussteigen müssen!
COVID-19: Obwohl wir „mit“ der Pandemie zu leben gelernt und bestimmte Situationen normalisiert haben, die vor der Pandemie alles andere als normal gewesen sind, ist die Pandemie noch nicht vorüber. Obwohl klar ist, dass die Kriegshandlungen gerade wichtiger sind, sollten wir das pandemische Geschehen nicht aus den Augen verlieren. Ich sehe Bilder aus Metro-Stationen in Kyjiw und Charkiw, die aktuell als Luftschutzräume verwendet werden, Dutzende und Hunderte von Menschen in überfüllten Räumen[21]. Die internationale Gemeinschaft muss sicherstellen, dass medizinische Hilfsgüter und Unterstützung nicht nur für die Kriegsfolgen sichergestellt sind, sondern auch für die Folgen von COVID-19!
Was kann unsere Rolle sein? Nicht nur ich, sondern auch viele meiner Freund:innen fühlen sich im Moment nutzlos und hilflos. Wir können jedoch eine Menge tun. Wir sind dafür verantwortlich uns zu informieren und über das, was in den letzten Tagen und Wochen geschehen ist, zu reden – und diese Information zu verbreiten. Es kann schwer fallen, Worte dafür zu finden. Aber indem wir miteinander in Dialog treten, werden wir sie finden. Wir müssen fragen, wie wir helfen können. Wenn möglich können wir direkte Unterstützung anbieten, ansonsten müssen wir Sach- und Geldspenden aufbringen. Wir können politische Forderungen in den Ländern in denen wir leben formulieren. Wir müssen solidarisch mit den Menschen in der Ukraine bleiben. Es gibt nur eine Seite, auf die wir uns stellen können: Frieden!
Dieser Krieg erzählt auch die Geschichte des Wegs von Wolodymyr Selenskyj von einem Comedian zu einem der aktuell wichtigsten politischen Figuren. Er hat die Hilfe der USA ihn aus der Ukraine zu evakuieren abgelehnt: „Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“.[22] Die Menschen in der Ukraine kämpfen auch für UNSERE Freiheit. Sie fühlen sich allein gelassen. Es liegt an uns das zu ändern!
03.03.2022, übersetzt aus dem Englischen von Andreas Exner, Originalbeitrag: https://cityofcollaboration.org/2022/03/03/exit-roads/
[1] https://www.theguardian.com/world/2022/feb/25/terrible-and-fantastical-fear-and-farewells-on-the-road-out-of-ukraine-kyiv-russia
[2] https://www.vice.com/en/article/wxd7p9/ukraine-molotov-cocktails-kyiv
[3] https://www.theguardian.com/global-development/2022/feb/08/in-limbo-refugees-left-on-belarusian-polish-border-eu-frontier-photo-essay
[4] https://www.theguardian.com/global-development/2021/dec/01/refugees-forced-to-claim-asylum-in-jail-like-camps-as-greece-tightens-system
[5] https://balkaninsight.com/2021/01/15/croatia-returned-7000-refugees-in-2020-bosnian-minister-says/
[6] https://globalvoices.org/2022/02/28/africansinukraine-we-are-students-we-dont-have-guns/
[7] https://edition.cnn.com/2022/02/28/europe/students-allege-racism-ukraine-cmd-intl/index.html
[8] https://www.bbc.com/news/world-africa-60555650
[9] https://balkaninsight.com/2022/02/24/eu-doubles-bosnia-peacekeepers-as-global-security-deteriorates/
[10] https://www.nytimes.com/2022/02/25/world/empire-state-building-eiffel-tower-ukraine-russia.html
[11] https://www.nytimes.com/2022/02/24/world/europe/russia-protests-putin.html
[12] https://www.science-diplomacy.eu/russian-scientists-publish-open-letter-condemning-the-war-with-ukraine/
[13] https://edition.cnn.com/2022/02/28/business/oligarchs-russia-ukraine-fridman-deripaska/index.html
[14] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_22_1441
[15] https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-news-02-27-22/h_86cf0cd7f6f9169538f80fea0209ed7c
[16] https://www.euronews.com/next/2022/02/25/the-disinformation-war-the-falsehoods-about-the-ukraine-invasion-and-how-to-stop-them-spre
[17] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_22_711
[18] https://www.theguardian.com/world/2022/feb/27/vladimir-putin-puts-russia-nuclear-deterrence-forces-on-high-alert-ukraine
[19] https://www.bbc.com/news/science-environment-60528828
[20] https://www.euronews.com/green/2022/02/25/radiation-levels-at-chernobyl-are-rising-the-environmental-impact-of-russia-s-war-in-ukrai
[21] https://www.washingtonpost.com/world/2022/02/25/ukraine-russia-video-photos-shelter-subway-stations/
[22] https://edition.cnn.com/2022/02/26/europe/ukraine-zelensky-evacuation-intl/index.html