Begriffe, Prinzipien, Zahlen
Im Folgenden erklären wir die Grundprinzipien Solidarischer Ökonomie und genossenschaftlichen Wirtschaftens. Dabei handelt es sich um Formen der Wirtschaftsdemokratie. Sie sind entscheidend für eine Transformation zu mehr Krisensicherheit, Gerechtigkeit und Lebensqualität.
„Solidarische Ökonomie ist ein Weg, das soziale und ökonomische Leben so zu organisieren, dass dir niemand die Autorität gibt, einem anderen Kommandos zu erteilen.“
Paul Singer, Staatssekretär für Solidarische Ökonomie, Brasilien; Projekt „Sustainable and Solidarity Economy“, 2015
Das Demokratieprinzip ermöglicht, dass alle Bedürfnisse gleichermaßen gehört werden. Alle, die sich an einer solidarökonomischen Organisation beteiligen, sind gleich wichtig. Niemand bleibt zurück. Bedürfnisse werden ausgehandelt: ohne Demokratie keine Bedürfnisorientierung. Nur in sozialen Beziehungen können Demokratie gelebt und Bedürfnisse ausgehandelt werden. Deshalb ersetzen Solidarische Ökonomien marktwirtschaftliche Strukturen durch soziale Beziehungen. Solidarisches Wirtschaften gedeiht, wenn sich Menschen wirklich füreinander interessieren und einander unterstützen wollen. Eine Kultur der Solidarität ist dafür notwendig.
Kurz gesagt gelten in Solidarischen Ökonomien also vier grundlegende Prinzipien:
- Demokratieprinzip = „Eine Person, eine Stimme“
- Förderprinzip = Bedürfnisse der Mitglieder stehen im Zentrum
- Beziehungsprinzip = soziale Beziehungen statt Marktstrukturen
- Solidarprinzip = wechselseitige Hilfsbereitschaft
„SEWA umfasst den Bereich der Gewerkschaft ebenso wie den der Genossenschaften. Die Gewerkschaft mobilisiert und organisiert die Frauen, die wegen Problemen in ihrer Arbeit zusammenkommen. Dann bilden die Frauen Berufsgenossenschaften, um über ihre Arbeit selbst bestimmen zu können.“
Ela Bhatt, Anwältin und Gründerin der Self-Employed Women’s Association SEWA in Indien, in: „We are Poor but so Many“, 2006
Beispiele Solidarischer Ökonomien
Es zählen dazu unter anderem:
- Konsumgenossenschaften, Kreditgenossenschaften, Genossenschaften im Wohnbau, Plattform-Genossenschaften, Sozialgenossenschaften, genossenschaftliche Handwerksbetriebe und Produktionsbetriebe, die kooperieren
„Die Park Slope Food Coop ist ein Lebensmittelgeschäft im Eigentum seiner Mitglieder, die es zugleich verwalten – als Alternative zu einem kommerziellen profitorientierten Unternehmen.“
Mission Statement des demokratischen Supermarkts Park Slope Food Coop in Brooklyn, New York, gegründet 1973
- Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit
- Multi-Stakeholder-Genossenschaften, in denen verschiedene Organisationen Mitglied sind, wie etwa bei Stadtteilgenossenschaften oder Energiegenossenschaften häufig der Fall
- Konglomerate aus mehreren Genossenschaften wie etwa die Mondragón Corporación Cooperativa (MCC) im spanischen Baskenland
„Die Genossenschaftsbewegung strebt danach ein neues Bewusstsein zu schaffen, mit einem Wort: eine neue Kultur, indem sie mit Hilfe wirtschaftlicher Demokratie und Solidarität die Macht humanisiert, und auf diese Weise verhindert, dass privilegierte Klassen entstehen.“
Pater José María Arizmendiarrieta, Gründer der MCC im spanischen Baskenland, in Whyte & Whyte: „Making Mondragon“, 1991
- Food Coops, Community Supported Agriculture, Community Made Agriculture und andere Formen der Kooperation zwischen Konsumierenden und Produzierenden in der Landwirtschaft
- Mietshäusersyndikate, Co-Housing Projekte, demokratisch verwaltete Landstiftungen und Kommunen
- Gemeinsame Bewirtschaftung von Wald, Weiden oder Fischgründen (Commons bzw. Gemeingüter)
- Informelle Netzwerke für gemeinsame Vermarktung und Produktion verschiedener Güter
- Tauschkreise und Alternativwährungen, Kostnixläden, Repair Cafés, Zeitbanken und Leihläden
- Angeeignete Fabriken (die von Belegschaften übernommen worden sind)
- Fabrikräte in revolutionären Situationen und Bewegungen
„Jetzt machen wir die Dinge, die wir schon immer machen wollten, aber die konnten wir nie tun, weil der Chef uns nicht ließ. Der Chef und die ganzen Vorarbeiter, die nach seinen Anweisungen handelten. Heute beruht alles darauf, dass wir einander helfen.“
Fredy, Arbeiter bei Zanon (heute FaSinPat), 2006
Die Produktionsmittel einer solidarökonomischen Organisation befinden sich im Eigentum der Mitglieder: „Alles gehört allen“. Geteiltes Eigentum sichert das gleiche Stimmrecht aller. Gemeineigentum erlaubt Kooperation auf Augenhöhe, Selbstverwaltung und das Teilen von Verantwortung.
Solidarische Ökonomie, Genossenschaften, Wirtschaftsdemokratie
Solidarische Ökonomie ist die Grundlage einer besseren Gesellschaft. Der Begriff bezeichnet eine umfassende Perspektive der sozial-ökologischen Transformation.
Das erste internationale Treffen zu Solidarischer Ökonomie 1997 in Lima hielt entsprechend fest:
„Solidarische Ökonomie impliziert zugleich ein ökonomisches, politisches und soziales Projekt, das in eine neue Art von Politik einmündet, während sie verschiedenste menschliche Beziehungen auf Basis von Konsens und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten entwickelt.“
Deklaration von Lima, 1997
Solidarische Ökonomie bezieht sich nicht nur auf Betriebe. Sie umfasst Haushalte, aber auch Menschen oder Organisationen, die über größere Distanzen hinweg eng zusammenarbeiten.
Solidarische Ökonomie beinhaltet vier Ebenen:
- Nano-Ebene: Demokratie innerhalb von Produktionsstätten und produktiven Netzwerken
- Mikro-Ebene: im Verhältnis zu Betroffenen, die nicht direkt mitarbeiten
- Meso-Ebene: zwischen Produktionsstätten und produktiven Netzwerken
- Makro-Ebene: regionale Wirtschaftspolitik und überregionale Austauschbeziehungen
Solidarische Ökonomie ist folglich ein Projekt der Wirtschaftsdemokratie.
„Richtig (…) das heißt innerlich wahr und zugleich moralisch zulässig, kann eine Arbeitsordnung nur dann sein, wenn sie schon in ihren Grundlagen den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwindet (…)“
Papst Johannes Paul II., in: Enzyklika „Laborem Exercens“, 1981
„Der Schlüssel dabei ist, dass niemand etwas besitzen darf, das die Ausbeutung der Arbeit des einen ermöglicht, um das Einkommen von jemand anderem zu vergrößern.“ – „Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform; sie ist auch eine Lebensweise. Der individuelle Mensch ist ihr Zweck, und alles andere ist ein Mittel für diesen Zweck.“
Mahmoud Mohamed Taha, sudanischer Politiker und Intellektueller, in: „The Second Message of Islam“, 1967
Damit können wir im Hier und Heute beginnen.
Ein wichtiger Anknüpfungspunkt dafür sind Genossenschaften.
„Genossenschaften sind die Zukunft“
Vandana Shiva, Philosophin und Ökofeministin aus Indien, CoopNews, 2019
Genossenschaften sind
- eine bestimmte Sozialform
- eine spezifische Rechtsform
Der Sozialform der Genossenschaft entsprechen Betriebe oder produktive Netzwerke mit den vier solidarökonomischen Prinzipien der Demokratie, Bedürfnisorientierung, Beziehung und Solidarität. Die Sozialform der Genossenschaft kann in verschiedenen Rechtsformen auftreten. Die Rechtsform der Genossenschaft drückt grundlegende Prinzipien solidarökonomischen bzw. genossenschaftlichen Wirtschaftens aus. Sie ist in vielen Fällen für solidarisches Wirtschaften besonders gut geeignet.
Wenn sich die genossenschaftliche Rechtsform nicht mit der Sozialform deckt, entsprechen Genossenschaften auch nicht den Prinzipien Solidarischer Ökonomien.
Solidarökonomische Genossenschaften
Die International Co-operative Alliance ICA versteht Genossenschaften als solidarökonomische, das heißt demokratische Wirtschaftsorganisationen. Genossenschaften sind demnach Unternehmen im Gemeinbesitz, die demokratisch durch und für ihre Mitglieder kontrolliert werden. Zweck dieser Organisationen ist es, die gemeinsamen sozio-ökonomischen Bedürfnisse und Bestrebungen zu erfüllen. Dabei nehmen die Prinzipien Fairness und Gleichheit den ersten Platz ein. So können nachhaltige Unternehmen entwickelt werden, die langfristig Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen. „Sie werden durch die Produzierenden, Nutzenden oder Arbeitenden verwaltet“, hält die ICA fest, „und folgen der Regel ,Eine Person, eine Stimme’.“
„Die Genossenschaft ist eine autonome Vereinigung von Personen, die sich freiwillig zusammen-geschlossen hat, um gemeinsame ökonomische, soziale und kulturelle Bedürfnisse und Bestrebungen mit Hilfe eines demokratisch kontrollierten Unternehmens in gemeinsamem Besitz zu erfüllen.“
Kurz gefasste Definition der Genossenschaft nach der International Co-operative Alliance, gegründet 1895
Die Genossenschaftsprinzipien der ICA sind:
- Freiwillige und offene Mitgliedschaft
- demokratische Kontrolle durch die Mitglieder
- ökonomische Beteiligung der Mitglieder
- Autonomie und Unabhängigkeit
- Bildung, Training und Information, darunter Öffentlichkeitsarbeit
- Kooperation zwischen Genossenschaften
- Sorge um die Gemeinschaft im Sinn einer nachhaltigen Entwicklung.
Verbreitung und wirtschaftliche Bedeutung
Solidarische Ökonomien existieren bereits weltweit und in allen Wirtschaftssektoren.
Hier einige Beispiele:
- Laut Global Census der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2012 gibt es rund 2,6 Millionen Genossenschaften in 145 Ländern mit insgesamt mehr als einer Milliarde Mitglieder. Das bedeutet: Ein Mensch von sechs ist weltweit Mitglied einer Genossenschaft. Weltweit erzeugen Genossenschaften etwa 4,3% des Weltbruttoprodukts. In vier Ländern erzielen Genossenschaften mehr als 10% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Regional kann ihre Bedeutung noch deutlich größer sein.
- In Brasilien wurden rund 20.000 solidarökonomische Initiativen erfasst. Das sind vor allem informelle Organisationen und Vereine, der Anteil der Rechtsform der Genossenschaft ist gering. In diesen Initiativen sind rund 1,4 Millionen Menschen aktiv. Das sind 1,7% aller Erwerbstätigen.
- In Frankreich zählen rund 7% aller Betriebe zum Sektor der Sozialen und Solidarischen Ökonomie, darunter die Rechtsform der Genossenschaft. In diesem Sektor arbeiten 10,5% aller Beschäftigten.
- In Barcelona umfasst der ähnlich definierte solidarökonomische Sektor 2,8% aller Wirtschaftsorganisationen und 8% aller Beschäftigten. Er erzeugt 7% des BIP der Stadt.
Wichtige Dachvereinigungen
Ein grundlegendes Prinzip Solidarischer Ökonomien ist die Solidarität zwischen Genossenschaften.
Deshalb sind Dachvereinigungen und größere Netzwerke für den Aufbau Solidarischer Ökonomien sehr wichtig.
Die Idee und Praxis Solidarischer Ökonomien reicht mindestens bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die „alten“ Solidarischen Ökonomien haben sich weltweit in Form der International Co-operative Alliance (ICA) institutionalisiert. Die ICA wurde 1895 gegründet. Sie zählt heute mehr als 300 Mitgliedsorganisationen in rund 100 Ländern. Daneben gibt es eine Vielzahl von sektoralen und regionalen Genossenschaftsverbänden.
Eine ähnliche Rolle in Österreich spielt die Vereinigung Österreichischer Revisionsverbände.
Im Gefolge der sozialen Bewegungen um 1968 haben sich „neue“ Solidarische Ökonomien entwickelt. Darunter zum Beispiel Food Coops und wiederangeeignete Betriebe (die von Belegschaften übernommen worden sind). Seit den 1990er Jahren sind zunehmend Dachorganisationen und gesetzliche Grundlagen dafür entstanden. Ein wichtiger Dachverband ist das Interkontinentale Netzwerk für Soziale und Solidarische Ökonomie (RIPESS), auf Französisch Réseau Intercontinental de Promotion de l’Économie Sociale et Solidaire.
„Solidarische Ökonomie ist eine Alternative zum Kapitalismus und andere autoritäre, staatlich dominierte ökonomische Systeme. In der Solidarischen Ökonomie spielen die einfachen Menschen eine aktive Rolle dabei, alle Dimensionen des menschlichen Lebens zu gestalten (…). Solidarische Ökonomie zielt darauf ab, das soziale und ökonomische System unter Einschluss des öffentlichen, des privaten und des Dritten Sektors zu transformieren.“
Mission Statement von RIPESS, Global Vision 2015
In Österreich erfüllt der Verein für Solidarische Ökonomie eine ähnliche Funktion.
Bildnachweise: Paul Singer, Agência Brasil via Wikipedia (CC BY 3.0 br); Ela Bhatt in der Qalandia Women’s Cooperative, The Elders via Wikipedia (CC BY 2.0); Park Slope Food Coop, Hauptgebäude, Beyond My Ken via Wikipedia (CC BY-SA 4.0); Firmenschild und Gebäudeeingang zur Móndragon Corporación Cooperativa, Viaje a la Corporación Mondragón en el País Vasco via Wikimedia (CC BY 2.0); Arbeit bei FaSinPat, Guglielmo Celata via Wikipedia (CC BY-SA 2.0); Hände, vait_mcright via Pixabay; Karol Wojtyła, späterer Papst Johannes Paul II., Fotograf_in unbekannt via Wikimedia (CC0); Mahmoud Mohammed Taha, Fotograf_in unbekannt via Wikipedia (Fair Use); Vandana Shiva, Augustus Binu via Wikimedia (CC BY-SA 3.0); Logo ICA via Wikipedia; Logo RIPESS via RIPESS.