Eine andere Wirtschaft ist möglich!

Selbstverwaltete Wohnbauten, genossenschaftliche Büros und Fabriken, solidarische Landwirtschaftsbetriebe und demokratische Geschäfte – all das und noch viel mehr ist Solidarische Ökonomie. Darum dreht sich „City of Collaboration“. Im Folgenden erklären wir, weshalb.

Wohnungen sind zum Wohnen da

Stell dir vor, du suchst eine Wohnung.

Wenn du zu einem privaten Vermieter gehst, wird er wahrscheinlich nach deinem Einkommen fragen.

Nicht, weil er sich darum sorgt, dass du genug zum Leben hast, sondern weil er sicher gehen will, dass du die Miete zahlen kannst. Wenn der Vermieter eine Immobilienfirma ist, wird das nicht genügen. Die will nämlich – anders als so manche Kleinvermieterin oder mancher Kleinvermieter – einen Profit erzielen. Das gelingt ihr nur, wenn sie mehr von dir verlangt als die Wohnung in Wahrheit kostet. Egal ob kleine Privatvermieter_innen oder Immobilienfirmen, jene, die in den Wohnungen leben, sind in beiden Fällen ein Mittel für einen anderen Zweck: Sicherheit für andere, Quelle von Profit für andere.

Terrassenhaussiedlung in Graz, solidarökonomisches Wohnprojekt. Quelle: A. Exner, 2019

Jetzt stell dir vor, du gehst zu einer Wohnbaugenossenschaft, die ihre Aufgabe ernst nimmt.

Eine solche Genossenschaft ist für ihre Mitglieder da. Das ist das Kernprinzip einer Solidarischen Ökonomie. Viele Wohnbaugenossenschaften haben ihre Prinzipien vernachlässigt. Aber gesetzt den Fall, du fragst bei einer Genossenschaft um eine Wohnung an, die ihren Auftrag lebt. Sie wird sich vielleicht auch nach dem Einkommen erkundigen. Aber nicht, um einen Profit zu erwirtschaften. Vielmehr wird sie jene Menschen bevorzugen, die sich am profitorientierten Wohnungsmarkt schwer tun, weil sie wenig verdienen.

Gegen Probleme aufgrund von Mietausfällen kann eine Genossenschaft, die wirklich solidarisch wirtschaftet, bis zu einem gewissen Grad vorsorgen, indem sie Mieten sozial staffelt. Sie kann auch einiges unternehmen, um pragmatische Lösungen zu finden, anstatt Menschen vor die Tür zu setzen wie das am normalen Wohnungsmarkt geschieht. Wenn eine Wohnbaugenossenschaft ihren Auftrag ernst nimmt, dann bezieht sie dich auch in die Gestaltung deiner Wohnung oder des Wohngebäudes, das sie verwaltet, ein. Du wirst deine Anliegen bei der Generalversammlung einbringen können, aber auch bei kleineren Meetings im Verlauf des Jahres. Mit den anderen im Genossenschaftsbau lebst du in einer Gemeinschaft, die ihren Wohnraum selbst verwaltet. Profis in der Buchhaltung, im Management und in der strategischen Planung unterstützen euch. So gehen Mitbestimmung und Lebensqualität Hand in Hand.

Denn in einer Wohnbaugenossenschaft, die ihrem Namen auch gerecht wird, sind jene, die in den Wohnungen leben, das Ziel aller Firmenaktivitäten. Klingt logisch, nicht wahr?

Genau darin besteht die Logik Solidarischer Ökonomie.

Wir sind die Firma

Szenenwechsel.

Stell dir vor, du gehst zur Arbeit ins Büro.

Du betrittst die Firmenräumlichkeiten und stellst deine Aktentasche neben den Schreibtisch. Während du darauf wartest, dass der Kaffee aus der Espressomaschine läuft, schaust du auf die Pinwand: Heute ist Plenarsitzung – fast hättest du das vergessen. Es ist ja Montag! Du bist noch nicht lange in dieser Firma, deshalb ist es für dich ungewohnt, dass Montag eigentlich immer toll ist, im Unterschied zu früher. Du freust dich auf deine Kolleginnen und Kollegen. Und außer ihnen arbeitet in dieser Firma auch niemand anders. Es gibt keinen Chef und keine Managerin. Eigentümerinnen und Eigentümer sind nämlich alle. Und bald wirst du sie beim Plenum im Kreis sitzen sehen. Das war am Anfang eine ziemliche Umstellung. Dass dir niemand sagt, was zu tun ist. Dass du dich hier wirklich ganz zu Hause fühlst, dass deine Vorschläge anerkannt werden, und du dich entfalten kannst.

Jetzt sind alle miteinander und gleichermaßen die Firma. Wenn Anfragen hereinkommen, so werden sie in kleinen Teams besprochen. Welche Aufträge nehmen wir an? Wie kalkulieren wir die Kosten? – All das und noch mehr wird in Teamsitzungen jeden zweiten Tag kurz diskutiert. Niemand hat dabei das letzte Wort. Denn das letzte Wort kann nur die Gruppe sprechen, alle zusammen also. Die Plenarsitzungen jeden Montag dienen dem Austausch unter den einzelnen Teams. So behalten auch 35 Beschäftigte gemeinsam einen Überblick.

Strategische Entscheidungen werden zwei Mal im Jahr getroffen. Und am Jahresende wird die Geschäftsführung gewählt. Nur sie ist mit gewissen Vorrechten ausgestattet: bei Entscheidungen, die das Unternehmen insgesamt betreffen. Diese Entscheidungen werden am Jahresende allerdings im Plenum diskutiert – und auch im Verlauf des Geschäftsjahres gibt es immer wieder mal Kritik. Sie wird ganz offen ausgesprochen. Schließlich geht es darum, möglichst gute Entscheidungen zu treffen. Das erfordert kritische Diskussionen und Transparenz. Wenn eine Geschäftsführung im nächsten Jahr wiedergewählt werden will, macht sie von ihren Vorrechten sparsam Gebrauch: wenn Entscheidungen rasch getroffen werden müssen um ein Risiko für die Firma abzuwenden. Oder wenn es unter den Beschäftigten Differenzen gibt, die nicht in einer Sitzung ausdiskutiert werden können.

Auch in dieser Geschichte geht es um eine Genossenschaft – ihr habt es schon erkannt.

Freilich, so eine Firma müsste nicht unbedingt auch der Rechtsform nach Genossenschaft sein. Vielleicht handelt es sich um eine GmbH mit gleichem Stimmrecht für alle. Genossenschaftliches Wirtschaften lebt nicht in juristischen Formeln, auch wenn die Rechtsform der Genossenschaft dafür viele Vorteile bietet. Solidarische Ökonomien bedeutet gelebte Demokratie, lebt von einer Kultur der Aufmerksamkeit, von Menschen, die füreinander da sind, ihre Bedürfnisse ernst nehmen und Fähigkeiten wechselseitig schätzen. Deshalb legt die Firma, von der hier die Rede ist, auch viel Wert auf die kontinuierliche Weiterbildung aller Beschäftigten. Nur so kann sich eine wirtschaftliche Organisation auch wirklich demokratisch entwickeln. Soweit es geht, rotieren aus diesem Grund in dieser Firma auch die Jobs: Alle helfen beim Putzen mit, und jene, die vor allem die Zimmer sauber halten, unterstützen im Sekretariat oder beim Verkauf. Alle bekommen zudem das gleiche Gehalt. Das stärkt den Zusammenhalt und drückt aus: Die Arbeit aller ist für die Firma notwendig. Und weil alle Menschen, die für die Firma arbeiten, gleich wichtig sind, verdienen auch alle gleich viel.

Gleiches Gehalt für alle ist kein „Muss“ in Genossenschaften. Aber die Erfahrung zeigt, dass viele Solidarische Ökonomien dazu tendieren. Einige setzen dieses Prinzip auch komplett in der Praxis um. Auf alle Fälle ist die Spanne der Einkommen in Genossenschaften im Schnitt geringer als in herkömmlichen Unternehmen.

Wenn die Firma je in Schwierigkeiten kommen sollte, dann werden alle ihre Einkommen gleichermaßen reduzieren. Das wäre in einer normalen Firma für die Beschäftigten ein Schuss ins Knie. In diesem Fall aber handelt es sich um eine Strategie, die sinnvoll ist, auch wenn sie schmerzt. Denn wenn es wirtschaftlich wieder besser geht, werden die Einkommen aller eben entsprechend angehoben. Niemand wird dagegen Einspruch einlegen. Die Firma sind ja wir. Die umfangreichen Kapitalrücklagen des Unternehmens bieten ein zusätzliches Sicherheitspolster. Darauf achten Genossenschaften in der Regel. Und dann gibt es noch die guten Beziehungen zu den anderen Genossenschaften in der Region. Sie helfen dabei, Zahlungsausfälle länger zu kompensieren als das bei herkömmlichen Betrieben der Fall wäre. Und sie sind auch bereit dazu, Kulanz zu üben.

Demokratischer Supermarkt

Eine letzte Geschichte. Sie handelt von einem Supermarkt.

Der hier ist aber anders. Du bist da nämlich Mitglied.

Auch das hat dich zuerst ein wenig irritiert. Hat aber interessant geklungen, und zudem hat die Nachbarin dich angeworben. Da wolltest du sie nicht enttäuschen. Also hast du sie zu einer Sitzung begleitet. Dort konntest du gleich denjenigen kennenlernen, der den Supermarkt organisiert. Früher führte er ein normales Geschäft, aber das ging Pleite. Da traten Leute, die dort regelmäßig eingekauft hatten, an ihn heran, und baten ihn darum, wieder aufzusperren. Mit ihrer Unterstützung. „Wie soll das denn gehen?“, fragte sich der frühere Geschäftsinhaber zu Beginn. Doch war das letztlich nicht so schwer, erzählte er beim Treffen. Die Konsumierenden, der Organisator, und ein paar Bäuerinnen aus der Gegend, die ihre Produkte regional vermarkten wollten, gingen zu einem Genossenschaftsverband und ließen ihr Geschäftsmodell prüfen: mit Hilfe der Mitglieder den Supermarkt auf demokratische Füße zu stellen und solidarisch neu zu organisieren.

Main Market Co-op, Spokane, USA. Quelle: Robert Ashworth via Wikimedia, CC BY 2.0

Wie das geht? Im Grunde einfach, auch wenn es ein wenig mehr Arbeit bedeutet für die Mitglieder als bloß bei einer der großen Handelsketten mit dem Auto vorzufahren. Die Kapitaleinlagen aller bildeten das Startkapital für die Neueröffnung. So teilten die Mitglieder das Risiko und die Verantwortung für das Wohlergehen des Betriebs. Auch die Agrarproduzenten beteiligten sich daran, den Laden wieder in Schuss zu bringen.

Dazu kommt, dass die Mitglieder selbst die Waren ins Regal räumen. Alle verpflichten sich dazu, ein Mal pro Woche einen Regal- oder Reinigungsdienst zu übernehmen. Sie stehen zu bestimmten Zeiten auch im Supermarkt, damit zusätzlich Nichtmitglieder einkaufen können. Für Mitglieder gilt nämlich Selbstabrechnung. Dass das alles klappt, wird natürlich kontrolliert. Weil allen alles gehört, gibt es allerdings in der Regel keine Probleme. Die Selbstverwaltung bedeutet, dass sich der Supermarkt Ausgaben für Angestellte spart – und relativ billig Waren abgeben kann. Nicht zuletzt die Bäuerinnen freut das. Sie haben einen sicheren Absatz und die Mitglieder akzeptieren krumme Gurken ebenso wie „schiache“ Äpfel. Sind ja bio.

Ein Unterschied um‘s Ganze

Diese drei Geschichten sind fiktiv. Aber nicht ganz.

Wir könnten konkrete Namen einsetzen, und dann würde schnell klar: Diese Geschichten gibt es wirklich, mit anderen Details. Wir werden auf dieser Website in der Folge noch Geschichten bringen, die es wirklich gibt. Das ist nur der Anfang. Er soll verdeutlichen, was Solidarische Ökonomien ausmacht: die Solidarität, das heißt wechselseitige Hilfe; die Kooperation, das heißt die Zusammenarbeit auf Augenhöhe; die Förderung der Mitglieder, das heißt die Orientierung an den Bedürfnissen und daran, wie sie am besten gemeinsam gedeckt werden; und die Demokratie, die sicherstellt, dass alle gehört werden und niemand zu kurz kommt.

Die besonderen Eigenschaften Solidarischer Ökonomien, die auch in den Genossenschaftsprinzipien des Internationalen Genossenschaftsverbands ICA zum Ausdruck kommen, haben viele positive Wirkungen: Sie machen diese Wirtschaftsweise krisenresilienter als herkömmliche Unternehmen, stärken die soziale Nachhaltigkeit und legen den Grundstein für einen ökologisch guten Umgang mit der natürlichen Umwelt und anderen Lebewesen. Denn wie die Menschen miteinander in einem wirtschaftlichen Betrieb umgehen, so behandeln sie zumeist auch andere Lebewesen und ihre Lebensumwelt. Das eine ist mit dem anderen verbunden. Wer Menschen ausbeutet wird in der Regel auch die Natur ausbeuten – und umgekehrt.

Damit ist nicht gesagt, dass Genossenschaften schon automatisch umweltfreundlicher sind als herkömmliche Betriebe, die nicht demokratisch wirtschaften. Denn dazu gehört schon mehr: ein Wissen um Umweltschutz, ein aktives Bewusstsein dafür und angepasste Technologien. Aber Solidarische Ökonomien sind nicht zufällig Vorreiterinnen im Bereich der Erneuerbaren Energien. Und treiben den Ausbau ökologischer Landwirtschaft voran: durch FoodCoops, Community Supported Agriculture, oder Landstiftungen und Landgenossenschaften.

Deshalb ist auch ihr Wachstumsdrang geringer als der eines konventionellen Betriebs. Solidarische Ökonomien streben nur dann nach mehr Produktion und Konsum, wenn die Mitglieder mehr Güter oder Dienste benötigen.

Degrowth-Demonstration in Leipzig, 2014, Quelle: Wikimedia, CC-BY SA 3.0

Solidarische Ökonomien sind zwar zum Teil gezwungen, Profite zu erzielen, weil sie mit profitgetriebenen Unternehmen in Konkurrenz stehen. Aber sie unterliegen von sich aus keinem Drang, immer mehr Geld einzunehmen und Kapital anzuhäufen. Denn in Solidarischen Ökonomien stehen die Mitglieder im Zentrum: ihr konkreter Bedarf an Wohnraum, Lebensmitteln, Energie oder einem Einkommen, das für ein gutes Leben ausreicht. Das „Genug“ ist der Mittelpunkt der Genossenschaft, nicht das „Immer-Mehr“.

Solidarische Ökonomien können sogar „schrumpfen“, ohne dass es den Menschen unbedingt schlechter geht. So können sie zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie beitragen, die nicht zuletzt klimapolitisch notwendig ist. Dazu sind Solidarische Ökonomien in der Lage, wenn sie nicht zur Gänze für den Markt produzieren und Teil eines größeren solidarischen Wirtschaftsgefüges sind, in dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Wenn eine solidarökonomische Organisation strikt nach der marktwirtschaftlichen Logik von finanziellen Ausgaben und Einnahmen wirtschaftet, so kann sie die Produktion nicht geplant zurückfahren, um das Klima zu schonen oder die Arbeitszeit sinnvoll zu verkürzen. Für eine Postwachstumsökonomie sind nicht nur übergreifende wirtschaftspolitische Weichenstellungen notwendig, sondern auch solidarische Beziehungen anstelle von marktwirtschaftlichen Prinzipien, die nur auf Zahlungsfähigkeit und Profit beruhen.

Solidarische Ökonomien sind aus diesem Grund das Rückgrat eines ökologischen Wandels.

Aber sie sind auch resilienter gegenüber Wirtschaftskrisen. Demokratie und Bedürfnisorientierung erhöhen die Überlebensfähigkeit solidarökonomischer Organisationen, die in einem konkurrenzgetriebenen, höchst krisenanfälligen Weltmarkt operieren, der ihren Prinzipien feindlich gegenübersteht. In mehreren Ländern konnte der Genossenschaftssektor deshalb in den Krisenjahren nach 2008 die Beschäftigung halten oder hat sogar an Arbeitsplätzen zugelegt – ganz im Unterschied zur konventionellen Wirtschaftsweise, die Beschäftigte rationalisiert, um Profite zu maximieren. Lösungen für wirtschaftliche Probleme, die Belegschaften gemeinsam und demokratisch erarbeiten, sind nämlich in der Regel besser als einseitige Vorschriften der Unternehmensleitung. Dazu kommt, dass Genossenschaften meist vorsichtiger wirtschaften. Schon allein deshalb sind sie weniger anfällig für Pleiten. Die Genossenschaftsverbände bieten darüber hinaus wertvolle Unterstützung an. In manchen Ländern sind sie auch mit finanziellen Mitteln ausgestattet, um Verluste abzufedern. Wo umfangreiche Genossenschaftsnetzwerke bestehen, können Betriebe, die in Probleme geraten, Mitglieder in anderen Genossenschaften unterbringen, die stabiler sind. Solidarität wirkt dann als Krisenpuffer.

All diese Vorteile, die Erfahrungen von Genossenschaften und die Herausforderungen Solidarischer Ökonomien auf dem Weg zu einer Wirtschaftsdemokratie sind Thema dieser Website und des Projekts City of Collaboration. Vor allem aber interessiert uns hier, wie Genossenschaften und Solidarische Ökonomien zur Blüte gebracht werden können. Dort, wo ihr gerade wohnt, überall auf der Welt.

Zum Einstieg haben wir schon einige weiterführende Links hier bereitgestellt.

Ergänzende Bildnachweise: Handschlag, Johnhain via Pixabay; Meeting, StartupStockPhotos via Pixabay