Demokratie im Betrieb – Die Nano-Ebene Solidarischer Ökonomie

Die Essenz Solidarischer Ökonomie ist die Demokratie. Was aber bedeutet Demokratie in einer solidarökonomischen Organisation? Und wie bleibt die genossenschaftliche Demokratie lebendig?

Solidarische Ökonomien brauchen Balance. Solidarökonomische Genossenschaften, die für den Markt produzieren, müssen sich andauernd bemühen, Demokratie und Konkurrenzfähigkeit im Gleichgewicht zu halten. Es gibt kein Gesetz, wonach sich diese beiden Eigenschaften ausschließen. Solidarische Ökonomien verfallen nicht notwendigerweise in das eine oder andere Extrem – indem sie sich entweder zu hierarchischen Betrieben zurückentwickeln oder ihren demokratischen Idealen treu bleiben, aber vom Markt verschwinden.

Das wurde oft behauptet, ist aber falsch.

Richtig ist: Menschen müssen in einer solidarökonomischen Organisation aktiv eine gesellschaftspolitische und ethische Perspektive verfolgen. Wenn eine Organisation darin nachlässt, degeneriert die Praxis Solidarischer Ökonomie. Dann wird ein kapitalistischer Betrieb, ein hierarchischer Verein oder ein paternalistisches Klientelnetzwerk daraus. Daher schreibt Paul Singer, der ehemalige Staatssekretär für Solidarische Ökonomie in Brasilien: Solidarische Ökonomie „ist kein Rezept, das man anwendet, das funktioniert, und das man dann vergessen kann“, sondern es handelt sich dabei vielmehr um „einen fortlaufenden Kampf“ gegen „die Tendenz zur Degeneration“ (Singer 1997, S. 9, zitiert in Morais 2014, S. 76).

Dabei geht es vor allem darum, den Genossenschaftsgeist, das echte Interesse am Anderen, die wechselseitige Hilfe lebendig zu halten. Erst eine solche Kultur der Solidarität gibt demokratischen Strukturen Sinn und Inhalt. Dann sprechen die Mitglieder einer solidarökonomischen Organisation über ihre Bedürfnisse und alle werden gehört. Dann florieren die Beziehungen zwischen den Mitgliedern und bieten eine Alternative zum Markt.

Das gelingt freilich nur auf Dauer, wenn eine Organisation in eine breitere soziale Bewegung eingebettet ist. Sie kann einer solidarökonomischen Organisation den notwendigen Raum für kritische Reflexionen bieten.

Die Vielfalt der Demokratie

Die Demokratie in einem Unternehmen oder einer Initiative kann verschiedene Formen annehmen.

Wolfgang Weber, Christine Unterrainer und Thomas Höge von der Universität Innsbruck erforschen Solidarische Ökonomien und wie Demokratie gelebt wird. Sie unterscheiden die Demokratie in einem Unternehmen oder einer Initiative nach Ebenen, Direktheit und Niveau, und Reichweite.

(1) Ebenen: Demokratische Entscheidungen können für den einzelnen Arbeitsplatz, eine Abteilung, einen Betrieb, ein ganzes Unternehmen (das verschiedene Betriebe beinhaltet) oder ein Netzwerk von Unternehmen getroffen werden. In einer solidarökonomischen Organisation werden grundsätzlich alle Ebenen einer Organisation demokratisch von den Mitgliedern gestaltet.

(2) Direktheit und Niveau: In vielen kleinen Initiativen treffen die Mitglieder die wesentlichen Entscheidungen basisdemokratisch, also in einem sehr tiefgehenden Sinn gemeinsam. Aber auch in manchen Fabriken entscheiden die Beschäftigten über ihre Belange basisdemokratisch. Alle zusammen diskutieren eine Frage. Dann trifft die Gruppe eine Entscheidung. Das ist Selbstverwaltung. In anderen Fällen bestimmen verschiedene Gruppen von Mitgliedern in den Entscheidungsgremien anteilsmäßig (paritätisch) mit. Verschiedene Gesichtspunkte werden dann durch Delegierte repräsentiert. Der klassische Fall: Die Geschäftsführung besteht aus dem Management gemeinsam mit Vertreter_innen der Belegschaft. Mitbestimmung gleich welcher Form ist jedenfalls mehr als bloße Mitwirkung oder das Recht angehört zu werden. Mitbestimmung bedeutet, dass Mitglieder effektiv mit entscheiden und auch die Verantwortung dafür tragen. Sie können zum Beispiel abgewählt werden. In Solidarischen Ökonomien gibt es meistens verschiedene Kombinationen aus basisdemokratischer und repräsentativ-demokratischer Mitbestimmung. In jedem Fall existiert mindestens ein Gremium, in dem ausnahmslos alle Mitglieder ihre Stimme einbringen können, etwa eine Jahresversammlung.

(3) Reichweite: Die Demokratie kann verschiedene Typen von Entscheidungen umfassen. In vielen Fällen konzentriert sich die demokratische Mitbestimmung auf strategische Entscheidungen. Darunter fallen der Standort eines Unternehmens, die Investitionen, Beteiligungen oder die Produktplanung. Die Demokratie in einer Organisation muss also zumindest die zentralen Fragen der Entwicklung und Struktur umfassen. Für Genossenschaften, die nur die Mindestkriterien der Rechtsform erfüllen, genügt das. Im Unterschied dazu werden in Solidarischen Ökonomien, das heißt in substanziell demokratischen Genossenschaften, aber auch taktische Entscheidungen demokratisch getroffen. Dazu zählen Fragen des Personalwesens, der Weiterbildung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeiten, wie Arbeiten aufgeteilt werden sowie die Wahl und Abwahl von Vorgesetzten. Weiters gehören dazu die Entwicklung von Produkten und Prozessen, oder Innovationen im Unternehmen. Dass die strategischen und zumindest ein Teil der taktischen Entscheidungen demokratisch getroffen werden, ist das Mindestkriterium einer solidarökonomischen Organisation. Zusätzlich können noch die täglichen Abläufe in einer Organisation demokratisch gesteuert werden. Dazu gehören die detaillierte Planung von Arbeitsprozessen, der genaue Personaleinsatz oder die Ausarbeitung von Qualifizierungsplänen.

Logiken Solidarischer Ökonomien

Mitbestimmung ist keine bloß formale Struktur.

Demokratische Mitbestimmung ist nur dann im tieferen Sinne möglich, wenn Solidarität und Beziehung wirkliche Lebensprinzipien sind. Genau aus diesem Grund gibt es auch keine gesetzmäßige Tendenz dazu, dass Genossenschaften degenerieren. In wirtschaftlichen Krisensituationen ebenso wie in vielen alltäglichen Entscheidungen klären die Mitglieder einer solidarökonomischen Organisation, wofür sie eigentlich zusammenarbeiten, an welchen ethischen Werten sie sich ausrichten, worin ihre Perspektive besteht. Geht es nur darum, Geld zu verdienen, oder Profit zu maximieren? Interessieren wir uns nur für den eigenen Arbeitsplatz, für die eigene Firma? Oder spielt noch eine andere Dimension eine Rolle? Gibt es also Logiken Solidarischer Ökonomie, die verhindern, dass letztlich nur die Kostenkalkulation die wirtschaftlichen Entscheidungen diktiert?

Dieser Frage haben sich Bruno Roelants, Eum Hyungsik und Elisa Terrasi gewidmet. Sie haben im Auftrag des internationalen Verbands der Dienstleistungs- und Industriegenossenschaften CICOPA eine Studie erstellt. Darin beschreiben sie bestimmte Handlungslogiken, die Solidarische Ökonomien deutlich von konventionellen, hierarchischen Unternehmen abheben. Acht solcher Logiken kann man weltweit unterscheiden.

Drei davon sind wesentlich: Die Menschen, die in Solidarischen Ökonomien arbeiten, verstehen diese Ökonomien erstens als demokratische Organisationen, zweitens als Familie oder Freundeskreis, drittens als Ausdruck ihrer Ethik. Diese Logiken beeinflussen, wie ein Unternehmen wirtschaftliche oder soziale Probleme angeht. Jede Logik dreht sich um eine bestimmte Frage. „Wie können wir das Problem gemeinsam lösen“, heißt sie in der Logik der Partizipation. „Wie können wir einander unbürokratisch helfen“, heißt sie in der Logik der Familie. „Wie können wir unsere Werte leben“, heißt sie in der Logik der Ethik.

Diese Fragen entscheiden darüber, was die Demokratie in einem Unternehmen zu sagen hat.

In der nächsten Folge beschreiben wir das an einem Beispiel.

Zum Weiterlesen

Morais, L.P. (2014): Social and Solidarity Economy and South–South and Triangular Cooperation in Latin America and the Caribbean: Contributions to Inclusive and Sustainable Development, in: Vieta, M., Lopes, A. M., Neamtan, N., Morais, L. P., de Almeida Abreu, A. T., da Silva, R. M. A., Pamplona, L., Utting, P., Noya, A. (2014): Campinas 2014. Social and Solidarity Economy: Towards Inclusive and Sustainable Development. ILO/ITC, Genf/Turin, 67-96. https://www.ilo.org/empent/Publications/WCMS_329359/lang–en/index.htm (Download 12.4.2020)

Roelants, B., Hyungsik, E., Terrasi, E. (2014): Cooperatives and Employment: A Global Report. https://www.ica.coop/sites/default/files/publication-files/cooperativesandemploymentaglobalreportenweb21-101pag-246863399.pdf (Download 12.4.2020)

Weber, W. G. (1999): Organisationale Demokratie – Anregungen für innovative Arbeitsformen jenseits bloßer Partizipation? Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 53, 270-281.

Weber, W.G., Unterrainer, C., Höge, T. (2008): Sociomoral atmosphere and prosocial and democratic value orientations in enterprises with different levels of structurally anchored participation, Zeitschrift für Personalforschung (ZfP), ISSN 1862-0000, Rainer Hampp Verlag, Mering, Vol. 22, Iss. 2, pp. 171-194. http://hdl.handle.net/10419/70968 (Download 12.4.2020)

Bildnachweise: Jonglieren, Peggy_Marco via Pixabay; Hände, truthseeker08 via Pixabay