Solidarische Ökonomie ist mehr als nur Demokratie im Betrieb. Wirtschaft geht uns alle an. Ein Unternehmen wirkt sich nicht nur auf die Beschäftigten aus, oder auf die Konsumierenden. Solidarische Ökonomie umfasst auch die Nachbarschaft und andere externe Interessensgruppen.
Letzte Woche haben wir in zwei Blogbeiträgen die Nano-Ebene Solidarischer Ökonomie dargestellt: einmal theoretisch, das andere Mal am Praxisbeispiel. Das ist die Ebene der Haushalte, der Betriebe, oder komplexerer Gemeinschaften von Erzeuger_innen und Verbraucher_innen. Auf dieser Ebene kooperieren Menschen eng miteinander. Sie stehen in intensivem Austausch. Das heißt, sie kommunizieren in kurzen Abständen, teilen viele Ressourcen und verstehen sich auch als eine abgrenzbare sozial-räumliche Einheit.
Demokratie ausweiten
Wenn wir von Solidarische Ökonomie sprechen, ist das aber nicht die einzige Ebene der Solidarität. Es geht um mehr. „Die Essenz Solidarischer Ökonomie ist die Demokratie“, sagt Paul Singer. Demokratie ist expansiv. Sie ist ein Wachstumsprogramm. Sie beginnt im Kleinen. Aber zielt aufs Ganze.
Demokratie ist weit mehr als Parlament und allgemeines Wahlrecht. Demokratie bedeutet auch Respekt vor dem Anderen, Bedürfnisse ausdiskutieren, gemeinsame Lösungen im Alltag finden. Demokratie heißt zunächst einmal kollektives Handeln, wirkliche Kooperation. Der Philosoph John Dewey sieht Demokratie deshalb nicht nur als eine Regierungsform, sondern auch als eine Lebensform. Dewey schreibt: „Als Idee betrachtet, ist die Demokratie nicht ein Prinzip des kollektiven Lebens unter anderen. Die Demokratie ist die Idee des kollektiven Lebens selbst“ [1]. Aus diesem Grund kann Demokratie nicht dabei stehen bleiben, in einer einzelnen Organisation gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Es geht auch darum, Gruppen und Organisationen in Entscheidungen einzubeziehen, die von ihren Auswirkungen betroffen sind. Es geht um externe Stakeholder.
Auf der zweiten Ebene Solidarischer Ökonomie, der Mikro-Ebene, werden also andere Gruppen und Organisationen in das eigene Handeln einbezogen. Das ist nicht leicht. Denn Menschen gehören zu verschiedenen Gruppen und Organisationen: religiös, sozial, ökonomisch, politisch oder kulturell. Aber es ist auch nicht unmöglich. Solidarische Ökonomie dreht sich nämlich um konkrete Aktivitäten. Diese Aktivitäten sind es, die Beziehung stiften, nicht die abstrakte Idee, zu einer sozialen Gruppe oder Organisation zu gehören. Solidarische Ökonomie ist konkretes Tun. Dort wo Menschen auf Augenhöhe kooperieren und Güter oder Dienstleistungen herstellen, entsteht und lebt Solidarische Ökonomie. Und dort, wo Menschen das über die Grenze einer Organisation hinweg tun, schaffen sie Verbindungen zu anderen Organisationen.
Und das ist auch sehr wichtig, wenn wir von Solidarischer Ökonomie sprechen.
Die Arbeit in einem Betrieb zum Beispiel ist ja eine konzentrierte Tätigkeit mit einem bestimmten Fokus. Die Menschen, die sich dabei engagieren, können nicht alle möglichen Folgen ihres Tuns in jedem Moment ausreichend reflektieren. Meistens sind nur wenige der Folgen wirtschaftlichen Handelns zu überblicken. Wer kann schon genau sagen, ob die eigene Organisation wirklich im Sinn des Allgemeinwohl handelt? Wer weiß mit Sicherheit, dass sie die Wünsche und Erwartungen anderer optimal erfüllt? Ohne direkte Rückmeldung bleibt eine solidarökonomische Organisation im Blindflug. Denn sie produziert ja nicht einfach Waren für den Markt oder Güter und Dienstleistungen für ihre Mitglieder. Sie arbeitet auch für das größere Ganze.
Deshalb braucht es eine Verbindung zwischen solidarökonomischen Organisationen mit anderen sozialen Gruppen. Sie alle haben spezifische Blickwinkel, bestimmte Bedürfnisse und Interessen. Wie schon auf der Nano-Ebene einer einzelnen Organisation gilt auch hier: Für solidarische Lösungen ist Demokratie notwendig. Damit auch alle wirklich gehört werden, ob in einer Organisation, oder außerhalb davon.
Mitbestimmung vertiefen
Das ist an sich kein neues Prinzip. Auch in der heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft wird es berücksichtigt. Wenn ein Unternehmen oder eine öffentliche Körperschaft eine große Investition tätigen will, so gibt es in den meisten Ländern Möglichkeiten der Stellungnahme anderer. Teilweise gibt es auch das Recht, weitergehende Informationen zu solchen Investitionsvorhaben zu bekommen. In der kapitalistisch geprägten Gesellschaft sichert dabei in vielen Ländern der Staat einen gewissen Minimalstandard. Er wacht im guten Fall zum Beispiel darauf, dass Umweltgesetze eingehalten werden. Bevor eine Großinvestition getätigt werden darf, die Umweltgesetze betrifft, müssen verschiedene Ziele, Interessen und Rechte abgewogen werden. Deshalb ist bei großen Bauvorhaben unter gewissen Bedingungen eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig.
Aber Solidarische Ökonomie geht auf der Mikro-Ebene der Demokratie einen Schritt weiter. Es ist nicht nur wichtig, dass andere Sichtweisen auf ein Vorhaben gehört werden. Notwendig sind vielmehr wirkliche Mitspracherechte. Nur dann ist gewährleistet, dass Bedürfnisse berücksichtigt werden. Denn auch Gruppen und Organisationen, die indirekt davon betroffen sind, was eine solidarökonomische Einheit produziert oder nicht produziert, konsumiert oder nicht konsumiert, müssen ein Mitspracherecht haben. Dieses Recht sollte sich nicht nur darauf beschränken, Einspruch einlegen zu können oder die eigene Sicht in eine Entscheidung einfließen zu lassen. Es sollte auch ermöglichen, eine solidarökonomische Organisation aktiv mitzugestalten.
So wird zudem berücksichtigt, dass Menschen eben nicht nur einer einzigen sozialen Gruppe oder Organisation angehören. Beschäftigte in einem solidarökonomischen Betrieb zum Beispiel sind nicht nur Mitglieder. Sie gehören auch zu einer bestimmten Berufsgruppe, sind weiblich, männlich oder anders aufgewachsen, haben einen spezifischen kulturellen Hintergrund und so fort. Das hat politische Konsequenzen. Nehmen wir zum Beispiel das Verhältnis zwischen Genossenschaften und Gewerkschaften. Diese stehen keineswegs im Widerspruch zu Genossenschaften. Die gewerkschaftliche Organisation von Genossenschaftsmitgliedern vertieft vielmehr die Demokratie in einer solidarökonomischen Organisation. Gewerkschaften können etwa Regelungen für Arbeitsverhältnisse ausarbeiten, die für viele Organisationen eines Produktionsbereichs sinnvoll sind, die mit den gleichen Herausforderungen in den Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Sie reflektieren einen Gesichtspunkt, den eine Genossenschaft für sich genommen nicht ausreichend berücksichtigen kann.
Auf diese Weise können auch gegensätzliche Interessen ausverhandelt werden. Menschen, die in einer solidarökonomischen Organisation Güter und Dienstleistungen herstellen, haben mitunter andere Interessen als die Konsumierenden. Während die einen vielleicht nur eine begrenzte Produktpalette herstellen wollen, wünschen sich die anderen ein breites Angebot. Das ist eine klassische Fragestellung der Diskussion um Wirtschaftsdemokratie: Wie können verschiedene wirtschaftliche Interessen ausgeglichen werden, die auch dann relevant sind, wenn Unternehmen gemeinschaftlich, das heißt solidarökonomisch geführt werden?
Verschiedene Optionen weiterentwickeln
Ein Lösungsansatz besteht darin, externe soziale Gruppen, Organisationen und Fachexpertise in die Verwaltung eines Unternehmens einzubeziehen. Das ist zum Beispiel über solidarökonomische Aufsichtsräte denkbar. Aufsichtsräte mit Kontrollrechten gibt es auch in kapitalistischen Betrieben. Im Fall des Montan-Mitbestimmungsgesetzes in Deutschland haben sogar Gewerkschaften ein paritätisches Mitbestimmungsrecht: 50% der Mitglieder des Aufsichtsrats vertreten die Interessen der Eigentümer, 50% die der Arbeitenden.
In einer Perspektive Solidarischer Ökonomie müssten solche Gremien weitergehende Befugnisse erhalten. Darüberhinaus sollten sie mehrere Interessensgruppen umfassen, also auch Vertreter_innen der Konsumierenden oder anderer Produktionsbetriebe und NGOs, die verschiedene Anliegen vertreten, zum Beispiel den Umweltschutz. Sie müssten eine öffentliche Diskussion über Investitionsentscheidungen ermöglichen und zumindest auch eigene Vorschläge einbringen können.
Dafür könnten innovative partizipative Entscheidungsformen hilfreich sein. Die Methode der soziokratischen Entscheidungsfindung zum Beispiel bietet die Möglichkeit, dass externe Organisationen Vertreter_innen in ein Unternehmen entsenden und an Entscheidungen mitwirken. Auf diese Weise kann eine Organisation auch andere Blickwinkel oder Interessen wahrnehmen und berücksichtigen. Die soziokratische Methode wird beispielsweise in vielen Unternehmen in den Niederlanden eingesetzt. Sie wurde zuerst von Gerard Endenburg in seinem Unternehmen Endenburg Elektrotechniek BV entwickelt. Dieses Unternehmen gehört inzwischen einer Stiftung, die von den Beschäftigten kontrolliert wird. Aber auch Baugruppen oder Schulen, darunter Beispiele aus Österreich, sind soziokratisch organisiert. In der KreaMont-Schule in St. Andrä-Wördern etwa gibt es Vertreter_innen externer Interessensgruppen in der Verwaltungsstruktur der Schule.
Neuere Entwicklungen im Genossenschaftsbereich bieten zusätzliche Anregungen. Das Modell der Multi-Stakeholder-Genossenschaft etwa eignet sich dazu, eine Bandbreite an Organisationen solidarökonomisch miteinander zu vernetzen. Schon länger ist diese Form der Demokratie auf der Mikro-Ebene Solidarischer Ökonomie in manchen NGOs bekannt. Im Bereich der Genossenschaften werden Multi-Stakeholder-Formen besonders im Energiesektor und in der Stadtentwicklung gegründet.
Solidarische Ökonomie braucht Demokratie auf der Mikro-Ebene. Die Demokratie im Betrieb ist ein Ausgangspunkt dafür, ein notwendiges Element. Auf der Nano-Ebene gibt es zahllose Beispiele für Solidarische Ökonomien. Auf der Mikro-Ebene dagegen bleibt noch viel zu tun. Erste Umrisse für vielversprechende Formen der Entscheidungsfindung sind in den letzten Jahren deutlich geworden. Sie gilt es weiter auszubauen, bekannt zu machen und auf ihre Vor- und Nachteile hin zu diskutieren.
Im nächsten Blogbeitrag wird es um ein Beispiel gehen, das zeigt, wie die Mitbestimmung von externen Interessensgruppen in Solidarischen Ökonomien in der Praxis aussieht.
Quellenangaben:
[1] Dewey, John (2016/1927): The Public and its Problems. Swallow Press, Athens/Ohio, S. 175
Ergänzender Bildnachweis: Titelbild, msandersmusic, via pixabay