Welche Rolle spielen Utopien für die Entwicklung von Stadt? Dieser Frage gehen wir in drei Artikeln nach, die zuerst auf dem Architekturblog GAT erschienen sind. Im ersten Teil der Serie „Die Stadt entsteht im Kopf“ schlagen wir einen Bogen von der Gartenstadt über die funktionale Stadt bis hin zur Smart City… und zur City of Collaboration.
Andrea Jany & Andreas Exner
Leitbilder im Allgemeinen und städtische im Speziellen versuchen eine mustergültige Darstellung bzw. ein erstrebenswertes Ideal des Zusammenlebens zunächst theoretisch zu konstruieren. Historisch und auch gegenwärtig kam und kommt es gelegentlich zur Realisierung dieser Idealbilder. Das politische und soziale aber auch wissenschaftliche und verwaltungstechnische Gefüge spielen bei der Realisierung eine wichtige Rolle. Die Gartenstadt nach dem Konzept von Ebenezer Howard, die funktionale Stadt beruhend auf der Charta von Athen und die Smart City als gegenwärtiges Zukunftsszenario sind drei dieser Leitbilder, die im städtebaulichen und stadtgeographischen Diskurs weithin bekannt sind. Diese drei Leitbilder entstanden in drei unterschiedlichen Jahrhunderten und entwickelten sich stets im Verlauf bestimmter wirtschaftlicher und technischer Veränderungen. Die konzeptionellen Überlegungen, die diesen Leitbildern folgen, die planerischen Reaktionen und der Blick auf die Menschen unterscheiden sich stark.
Gartenstadt
Kern des Konzepts der Gartenstadt, ein Ansatz von Ebenezer Howard aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war die Lösung der Platznot im Zuge der Industrialisierung von London. Städtisches Bevölkerungswachstum, Erhöhung der Bodenpreise, Eigentum des Bodens in wenigen Händen, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, überfüllte Wohnungen mit schlechten sanitären Bedingungen sorgten u.a. für Spannungen in der Gesellschaft und führten zu unhaltbaren Zuständen. Howards Ansatz konzipierte einen engeren Zusammenhang zwischen Stadt und Land um in einer idealen Kombination die Vorteile beider auszuschöpfen bei gleichzeitiger Beseitigung der Nachteile. Wesentlicher Bestandteil des Gartenstadt-Konzeptes war die Eigentumsstruktur. Die Gemeinden treten hierbei als Eigentümer von Grund und Boden auf und agieren als Genossenschaft für die pachtenden BewohnerInnen mit einem dezidierten Spekulationsverbot. Eine kooperative und Verantwortung teilende Gemeinschaft war beabsichtigt, mit dem Ziel eine optimale Balance zwischen der Gemeinschaft und den Individuen zu erreichen, die sich aus Howards Sicht erst im experimentellen Alltag entscheiden ließ. Mit der Gründung der Garden Cities Association durch Howard kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zur Umsetzung der beiden ersten Gartenstädte in London: Letchworth Garden City und Welwyn Garden City. Im deutschsprachigen Raum gründete sich im Jahr 1908 in der Nähe von Dresden die Gartenstadt Hellerau.
Funktionale Stadt
Wenig später, Mitte der 1920er Jahre, formierte sich eine lose Gruppe von Architekten und Stadtplanern um die Aufgaben einer modernen Siedlungsentwicklung zu diskutieren. Angesichts der Probleme kleinteiliger städtischer Strukturen, die für die Großindustrie und ihre Belastungen nicht gewachsen waren, forderte die Gruppe ein neues Konzept der städtischen Gesamtplanung. Der CIAM-Kongress, konzipiert von Le Corbusier, trat zwischen 1928 bis 1959 als loser Zusammenschluss und als Denkfabrik in 11 Konferenzen zusammen. Das bekannteste Ergebnis dieser losen Gruppe ist die Charta von Athen aus dem Jahr 1933. Sie propagierte die funktionale Stadt mit einer klaren Trennung von Arbeiten, Wohnen und Erholung. Hintergrund war die Idee einer sozial ausgewogenen urbanen Entwicklung im Sinn der Interessen der Mehrheit der städtischen Bevölkerung. Die Charta forderte einen sozialen Fortschritt durch zentrale Planung, standardisierte Ordnung und moderne Technik. Dazu gehörten beispielsweise auch extensive Grünräume. Der Mensch, so wurde angenommen, fügt sich nahtlos in diese geplante gesellschaftliche Ordnung ein. Dieses Konzept gewann vermehrt an Bedeutung im Wiederaufbau der Städte ab den 1950er Jahren. Die autogerechte Stadt von heute war nicht das explizite Ziel der Charta von Athen. Allerdings werden heutige städtische automobilbetonte Realitäten u.a. darauf zurückgeführt, wie dieses Konzept in der städtebaulichen Praxis interpretiert worden ist. Die Weiterentwicklung der Städte entsprang nach dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls weniger einem bewusst geordneten sozialen Prozess denn einer technischen Entwicklung – dem Automobil. Realisierte städtische Beispiele gibt es vor fast jeder Haustür.
Smart City
Rund 50 Jahre später lässt sich ein neues städtisches Leitbild auf internationaler Ebene ausmachen – die Smart City. Hintergründe sind insbesondere die Krisentendenzen seit 2008 und den Folgejahren. Sie drängen viele Städte dazu, öffentliche Haushalte zu kürzen und nach neuen Wachstumsstrategien Ausschau zu halten. Auch große Unternehmen im Technologie- und Beratungssektor zielen auf neue Produkte, die sie Städten zum Kauf anbieten können, um ihre Profitabilität zu sichern. Zudem schleifen sich Umweltanliegen in die ökonomischen Krisentendenzen ein. Ähnlich wie schon in den 1980er Jahren, nun allerdings in noch größerem Umfang, erscheinen die digitalen Technologien wie ein Wundermittel um verschiedene Krisentendenzen zu bewältigen. So treten unterschiedliche Städte, in Größe und kultureller Verankerung weit gestreut, in einen Wettbewerb und versuchen sich als Smart City zu vermarkten. Wenngleich es bis heute keine einheitliche Definition einer Smart City gibt, so zielt dieses Konzept im Allgemeinen doch darauf im großen Stil digitale Daten zu sammeln und Steuerungstechnologien zu implementieren, um die städtischen Prozesse effizienter, sauberer und sicherer zu gestalten. Adressiert werden vor allem die Bereiche Mobilität, Energie, Sicherheit, aber auch Dienstleistungen und Verwaltungsprozesse. Die Weiterentwicklung der Städte bezieht sich in diesem städtischen Leitbild stark auf digitale Innovationen. Auch der Mensch soll „smarter“ werden.
Graz beteiligt sich offiziell seit dem Forschungsprojekt I live Graz – smart people create their smart city im Jahr 2010 an diesem Diskurs. Den ersten Meilenstein, Teil einer so genannten Roadmap, markiert demnach das Jahr 2020 mit der Etablierung von fünf Smart-City-Quartieren in der Stadt. Zur Zeit wird am ersten Smart-City-Quartier im Bereich der Waagner-Biro-Straße unter dem Titel MySmartCityGraz gebaut.Die städtebaulichen Leitbilder der Gartenstadt und der funktionalen Stadt dienten vielen konkreten Entwicklungen als Inspiration. Allerdings wurden die gesellschaftlichen Visionen, die mit diesen Leitbildern verbunden waren, nur unzureichend verwirklicht. Beide Leitbilder zielten im Grunde auf verschiedene Versionen einer sozialistischen Gesellschaft. Die Gartenstadt auf einen handwerklich und agrarisch geprägten Gildensozialismus von Genossenschaften, die funktionale Stadt auf einen fordistischen Sozialismus der großen Industrie. Die Architektur dieser Leitbilder ist Teil unserer Gegenwart. Sie ist umfangreich reflektiert worden. Die Smart City zielt dagegen auf eine Zukunft ab, in der wir alle leben sollen. Auch mit ihr ist eine bestimmte gesellschaftliche Vision verbunden: Der unternehmerisch denkende Mensch, der sich in Echtzeit optimiert und seine „Effizienz“ beständig steigert. Diese Effizienz zielt vor allem darauf, die kapitalistische Verwertbarkeit des menschlichen „Humankapitals“ zu vergrößern, städtische Haushalte zu kürzen (insbesondere die sozialen Leistungen), da sie die Profitabilität belasten, Kommunalverwaltungen stärker noch als bisher im Sinn von unternehmerischen Dienstleistern (anstelle demokratischer Institutionen) zu positionieren, und die Profitabilität der kapitalistischen Unternehmen zu erhöhen. Sie zielt auch darauf, ein Gefühl von „Sicherheit“ in einem öffentlichen Raum zu vermitteln, der von vielen zunehmend als bedrohlich erlebt wird – nicht zuletzt aufgrund wachsender sozialer Ungleichheiten. Ökologische Aspekte spielen in Smart Cities mitunter ebenfalls eine Rolle. Doch verstehen sie Ökologie auf eindimensionale Art: als Angelegenheit einer technologischen Effizienz. Dass diese Ausrichtung dazu führen kann, das menschliche Naturverhältnis zu verbessern und den Ressourcenverbrauch zu reduzieren, ist zu bezweifeln. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der theoretischen Annahmen vieler Smart-City-Initiativen im Vergleich mit der gebauten Realität und ihrer Auswirkungen auf den Menschen bedarf noch vermehrter Anstrengungen.
City of Collaboration
Projekte wie City of Collaboration, gefördert durch das Grazer Kulturjahr 2020, (s. Link) und SMASH (gefördert durch den Klima- und Energiefonds, umgesetzt in Kooperation mit dem StadtLABOR und Bravestone Information-Technology GmbH) versuchen im Kleinen forschungsgeleitet in die Stadtentwicklung diskursiv und praktisch einzuwirken. Das Projekt City of Collaboration steckt den Rahmen einer solidarischen Stadtentwicklung auf theoretischer Ebene ab und zeigt realisierte Beispiele Solidarischer Ökonomien vom lokalen bis hin zum internationalen Kontext auf. Das Projekt SMASH fokussiert dagegen auf den Grazer Smart-City-Diskurs. Es verfolgt dabei einen Smart-Sharing-Ansatz, der Demokratie, das heißt das Teilen von Verantwortung anstelle von (vermeintlicher) „Effizienz“ in den Vordergrund rückt. SMASH arbeitet auf zwei Ebenen: Erstens zielt es darauf, den übergreifenden Diskurs von Smart City hin zu einer Solidarischen Ökonomie der Verantwortung zu verschieben; zweitens ist es auch konkret in der MySmartCityGraz als Demonstrationsprojekt verortet. Damit schlägt es einen Bogen vom Smart-City-Diskurs hin zu lokalen „smarten“ Entwicklungsgebieten.
Ziel von SMASH auf der lokalen Ebene ist, gemeinsam mit Menschen, die in die MySmartCityGraz einziehen werden oder in deren Umfeld wohnen, Solidarische Ökonomien zu entwickeln. Hierbei geht es um Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliche Organisationen, aber auch kommerziell arbeitende Unternehmen in Form von Genossenschaften. Das Teilen von Gegenständen, Diensten, Wissen soll angeregt und mit dem Teilen von Verantwortung verbunden werden. Es geht also um eine Demokratisierung von Entscheidungen. Ob das gelingen wird, bleibt abzuwarten. Die Begleitforschung in SMASH kann am „lebenden Objekt“ analysieren, welche Faktoren in einer realen Smart-City-Initiative die Potenziale für eine sozial gerechte und umweltfreundliche Stadt mit hoher Lebensqualität einschränken, und wie Spielräume für eine Solidarische Ökonomie der Stadtentwicklung unter diesen Bedingungen vergrößert werden können. Zugleich erarbeitet SMASH im Vergleich von Erfahrungen in anderen Städten die Erfolgsfaktoren für eine solidarökonomische Stadtentwicklung, die vielleicht nicht im heute üblichen Sinn „smart“, jedoch schlau und nachhaltig ist. Die Diskursplattform City of Collaboration möchte alle Interessierte einladen, kooperative Projekte und Initiativen für Graz einzubringen, um gemeinsam eine schlaue und nachhaltige Grazer Stadtentwicklung voranzutreiben.
Literatur
Belina, B.; Naumann, M.; Strüver, A. (Hrsg.): Handbuch Kritische Stadtgeographie, 2018.
Frampton, K.: Die Architektur der Moderne: eine kritische Baugeschichte, 1995.
Bauriedl, S.; Strüver, A. (Hrsg.): Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, 2018
Exner, A.; Kratzwald, B.: Solidarische Ökonomien & Commons, 2012.
Verfasser / in:
Andrea Jany, Andreas Exner
Datum:
Wed 20/05/2020
Ergänzender Bildnachweis: architektur:lokal, Vortrag bei Architekturtage 18, Kasperhof, Copyright Franz Piffl