Nach dem Wachstum

Krisen können Wendepunkte sein. Einen solchen sieht Ökologe und Politikwissenschaftler Andreas Exner in der jetzigen Krise aber einstweilen nicht erreicht.

Interview: Marian Kröll, eco.nova

Andreas Exner ist Wissenschaftler am Zentrum für nachhaltige Gesellschaftstransformation, übt postmarxistische Kritik am kapitalistischen System und zeigt mit der Postwachstums bzw. solidarischen Ökonomie eine denkmögliche Alternative auf, die einen Ausbruch aus dem Wachstumsimperativ ermöglichte.

ECO.NOVA: Können Sie skizzieren, wie ein Ausbrechen aus der gegenwärtigen Ökonomie im Sinne einer Postwachstumsökonomie und/oder einer solidarischen Ökonomie aussehen könnte?
ANDREAS EXNER: Unter den Bedingungen der heute vorherrschenden Wirtschaftsweise, die undemokratisch und vom Profitmotiv getrieben ist, ist eine Abkehr vom Wachstumsimperativ nicht möglich. Eine Reduktion des Outputs an Gütern und Dienstleistungen würde dazu führen, dass die Erwerbslosigkeit zunimmt, mit einer Reihe schwerwiegender sozialer und politischer Probleme im Gefolge. Auch ein bloßer Rückgang des Wirtschaftswachstums erweist sich in der Regel schon als problematisch. Eine Postwachstumsökonomie muss demokratisch sein, um den Übergang in eine neue Ökonomie auch solidarisch gestalten zu können. Dafür braucht es Demokratie in den Unternehmen, im Verhältnis zu Stakeholdern, zwischen einzelnen Unternehmen und auch in Hinblick auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Es geht, um es wie das Netzwerk für Ökonomischen Wandel NOW zu formulieren, um eine Demokratisierung des Staates, eine Gemeinwohlorientierung der Märkte und eine Ausweitung von Commons, wo es nicht um Kauf und Verkauf, sondern um Kooperation geht.

Was ist das Ziel dieser Ökonomien?
Solidarische Ökonomien, die eine wichtige Dimension einer Postwachstumsökonomie darstellen, orientieren sich grundsätzlich primär an menschlichen Bedürfnissen, nicht an der Produktion von Profit und der Akkumulation von Kapital. Bedürfnisse sind dabei weit gefasst. Das heißt, es geht nicht nur um Güter und Dienstleistungen, sondern ebenso um Selbstentfaltung der Arbeit, um Freude an der Kooperation und dem Beisammensein mit anderen, um das Leben von sozialen Beziehungen.

„WOHLSTAND HÄNGT AB EINEM GEWISSEN MATERIELLEN NIVEAU DES LEBENSSTANDARDS NICHT MEHR VON GÜTERN UND DIENSTLEISTUNGEN AB, SONDERN VON DER QUALITÄT SOZIALER BEZIEHUNGEN.“

Andreas Exner, Ökologe und Politikwissenschaftler

Geht eine Wirtschaft ohne Wachstum nicht zwangsläufig mit einem Wohlstandsverlust einher?
Der materielle Reichtum ist im Globalen Norden schon seit Langem in ausreichendem Maße gegeben. Es sind nicht mehr Güter und Dienstleistungen notwendig. Wohlstand hängt ab einem gewissen materiellen Niveau des Lebensstandards nicht mehr von Gütern und Dienstleistungen ab, sondern von der Qualität sozialer Beziehungen: von einer relativen sozialen Gleichheit, von Gelegenheiten der Selbstentfaltung in der Arbeit, von Lebenszeit, über die Menschen frei verfügen können. Wir brauchen soziale Infrastrukturen, die allen zugänglich sind, damit das möglich wird. Dass nur als Wohlstand gilt, wenn Wirtschaft wächst, ist den Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise geschuldet, nicht einem Naturgesetz, das nicht geändert werden kann.

Muss der Konnex mehr materieller Wohlstand bedeutet mehr Zufriedenheit hinterfragt werden?
Auf alle Fälle. Im Grunde genommen wurde die durchschnittliche Zunahme des Konsums seit den 1980er-Jahren im Globalen Norden ja mit einer verstärkten Ausbeutung von Menschen im Globalen Norden, noch mehr jedoch im Globalen Süden erkauft. Zuvor waren die Produktivitätssteigerungen noch so groß, dass sowohl die Kapitaleigentümer große Profite als auch die Lohnabhängigen zunehmende Löhne für sich verbuchen konnten. Die wurden auch in mehr Konsum umgesetzt. Das ist heute nicht mehr der Fall und ökologisch auch gar nicht mehr tragbar. Die Zunahme des Konsums seit den 1980er-Jahren hat sicherlich nicht dazu geführt, dass Menschen heute glücklicher sind als in den 1970ern. Im Gegenteil. Die zunehmende soziale Ungleichheit und Prekarisierung führt zu einem massenhaften gesellschaftlichen Leiden, das Warenkonsum gar nicht aufwiegen kann.

Begreifen Sie diese Krise als Chance für einen ökologisch ökonomisch-sozialen Transformationsprozess?
Ob eine Krise Chancen der Veränderung bietet oder eher bestehende Probleme weiter vertieft, hängt wie auch in Zeiten gesellschaftlichen „Normalbetriebs“ von den jeweiligen Kräfteverhältnissen ab. Wenn es sich um eine wirkliche gesellschaftliche Krise handelt, dann müssen sich viele Akteure neu orientieren, nach neuen Strategien und Leitbildern der Entwicklung suchen. Das ist eine relative Situation der Offenheit, in der kein Akteur voraussehen kann, wer sich letztendlich durchsetzen wird. Dass wir uns durch die COVID-19-Krise in einer solchen Situation befinden, sehe ich noch nicht. Dennoch hat auch diese Krise, soweit ich es überblicken kann, gewisse Potenziale – neben spezifischen Gefahren, die damit verbunden sind, wie diese Krise momentan bearbeitet wird.

Warum spielen wirtschaftspolitische Überlegungen, die nicht auf Wachstum abzielen, in den Politiken der meisten Staaten keine oder eine sehr untergeordnete Rolle?
Der Staat ist unter kapitalistisch geprägten Verhältnissen grundsätzlich ein „Steuerstaat“, und zwar in einem doppelten Sinn. Der Staat versucht, Prozesse zu steuern, um die kapitalistische Produktionsweise und ihren Wachstumsimperativ aufrechtzuerhalten, ihr Legitimität zu verschaffen. Das kann er aber nur, wenn diese Produktionsweise auch Steuereinnahmen generiert und sich die Erwerbslosigkeit in bestimmten Grenzen hält, jedenfalls nicht zum politischen Problem gemacht wird. Wenn wir von „dem Staat“ sprechen, so ist das freilich eine grobe Vereinfachung. „Der Staat“ setzt sich aus vielen und zum Teil widersprüchlichen Interessen und Institutionen zusammen. Es gibt daher immer auch Anknüpfungspunkte für Alternativen. Sie müssen aber erst einmal in staatlichen Strukturen verankert werden und sich dann auch gegen andere Interessen durchsetzen. Zu solchen Alternativen gehören beispielsweise makroökonomische, wirtschaftspolitische Überlegungen für eine Postwachstumsökonomie, aber auch eine starke Förderung Solidarischer Ökonomien. Solche Überlegungen sind per se nicht im Interesse der Kapitaleigentümer, bedeuten aber auch einen Bruch mit den gewohnten Leitbildern eines guten Lebens, das auch viele Gewerkschaften vertreten.

„SOLIDARISCHE ÖKONOMIEN VEREINEN VERSCHIEDENE VORTEILE: ES GEHT UM E IN HÖHERES MASS AN MATERIELLER S ICHERHEIT, ABER AUCH UM BESSERE SOZIALE BEZIEHUNGEN, MEHR SOZIALE GLEICHHEIT, UM MEHR FREUDE AM TUN, UM DIE BEREICHERUNG DES E IGENEN LEBENS DURCH ÖKONOMISCHE KOOPERATION.“

Andreas Exner

Würde eine Abkehr von einer wachstumsfokussierten Wirtschaft in der gegenwärtigen Situation die wirtschaftliche Abwärtsspirale nicht noch verschärfen?
Es ist wichtig zu sehen, dass viele Regionen des Globalen Südens mehr Güter und Dienstleistungen brauchen. Das heißt aber nicht, dass es deshalb auch einer kapitalistischen, am Profit ausgerichteten Entwicklung bedarf. Genossenschaften zum Beispiel haben historisch oft die Funktion übernommen, materiellen, sozialen und kulturellen Wohlstand dort zu schaffen, wo er fehlte. Aber auch dort, wo absoluter Mangel großteils überwunden worden ist, wie in einigen Regionen des Globalen Nordens, gehören Genossenschaften und andere Formen Solidarischer Ökonomie zu den Elementen einer Postwachstumsökonomie, die dabei helfen können, die Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum zu überwinden. Immer wieder zeigt sich, dass Genossenschaften Krisen besser überstehen als viele kapitalistische Unternehmen und dazu beitragen, die Folgen von Krisen abzufedern. Ich würde also sagen, es geht darum, massiv in den Ausbau der bereits bestehenden Solidarischen Ökonomien zu investieren. Diese Art von „Wachstum“ wäre in höchstem Maße notwendig.

Sie haben die Neue Solidarische Ökonomie einmal als Repolitisierung des Genossenschaftsgedankens bezeichnet. Sind nicht Genossenschaften, wie wir sie heute kennen, auch dem Wachstum verpflichtet? Grundsätzlich sind Genossenschaften den Bedürfnissen ihrer Mitglieder verpflichtet. Diese Bedürfnisse werden im Idealfall demokratisch ausgehandelt. So kann auch viel besser auf ökologische Begrenzungen Rücksicht genommen werden als in einem herkömmlichen Unternehmen. Richtig ist, dass viele Genossenschaften sich von den Prinzipien Solidarischer Ökonomie entfernt haben. Dann kann es dahin kommen, dass es ebenfalls um Profit und Wachstum geht. Ich denke, die Diskussion um Solidarische Ökonomie erinnert auch die traditionellen Genossenschaftssektoren daran, wo ihre eigentlichen Ursprünge liegen.

Welche Vorteile kann eine Solidarische Ökonomie ihren Teilnehmern gegenüber dem Status quo bieten?
Die Motive für Solidarische Ökonomien sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie entwickeln. Es geht für viele, vor allem im Globalen Süden, zunächst einmal um das Überleben, um Erwerbseinkommen und Arbeitsplätze. Auch in diesen Fällen spielt aber oft eine wichtige Rolle, sich demokratisch zu organisieren, Vorgesetzte wählen zu können oder als Kollektiv zu arbeiten. Die Sicherung von Einkommen und Arbeitsplätzen ist allerdings auch im Globalen Norden ein wichtiges Motiv, gerade in Krisenzeiten. Davon abgesehen sehen viele Konsumierende Vorteile in Solidarischen Ökonomien. Beispielsweise was die Produktqualität, Regionalität und Saisonalität bei Lebensmitteln angeht. Solidarische Ökonomien vereinen verschiedene Vorteile: Es geht um ein höheres Maß an materieller Sicherheit, aber auch um bessere soziale Beziehungen, mehr soziale Gleichheit, um mehr Freude am Tun, um die Bereicherung des eigenen Lebens durch ökonomische Kooperation.

Steht die Solidarische Ökonomie der Globalisierung unversöhnlich gegenüber?
Es kommt darauf an, welche Globalisierung gemeint ist. Eine Globalisierung der Kooperation, der sozialen Gleichheit, des guten Lebens für alle ist ein Grundanliegen Solidarischer Ökonomie.

Wie wäre es um die Resilienz dieser Ökonomie bestellt?
Die Krisen der kapitalistischen Ökonomie haben im Grunde zwei Wurzeln. Zum einen wird systematisch an gesellschaftlichen Bedarfen vorbeiproduziert, weil Produktion der chaotischen Entwicklung einer unregulierten Marktwirtschaft überlassen wird. Zum anderen machen sich auch immer mehr die Krisen der Ökologie in der Ökonomie bemerkbar, die auf das Konto der kapitalistischen Produktionsweise gehen. Beispielsweise spielen der Landnutzungswandel und die Form der Landwirtschaft, die durch profitgetriebene Unternehmungen und Entwicklungen vorangetrieben wird, eine Rolle bei der Entstehung und Verbreitung von neuen Krankheitserregern. Solidarische Ökonomien setzen hier an der Wurzel der Probleme an: Es geht um eine wirtschaftliche Tätigkeit im Einklang mit menschlichen Bedürfnissen und um ein neues Verhältnis zur Natur.
Solidarische Ökonomien erweisen sich aber auch unter kapitalistisch geprägten Bedingungen häufig als resilienter im Vergleich mit kapitalistischen Unternehmen.

Beim Wachstum geht es nicht allein um mengenmäßiges Wachstum, sondern auch um einen Produktivitätszuwachs. Ist es im Sinne einer Solidarischen Ökonomie, das Verhältnis zwischen Produktionsergebnis und den dafür eingesetzten Produktionsfaktoren kontinuierlich zu verbessern? Solidarische Ökonomie geht von den menschlichen Bedürfnissen aus. Wirtschaftliches Handeln ist dann Teil sozialer Beziehungen. Ob die technische Effizienz der Produktion gesteigert werden soll oder nicht, ist zunächst eine Frage der demokratischen Entscheidung. Unter den Bedingungen kapitalistisch geprägter Märkte hat diese Frage aber schon eine vorgefertigte Antwort: Wer die Produktivität nicht steigert, hat in der Konkurrenz das Nachsehen. Zudem gehen die dafür nötigen Investitionen in der Regel mit einer Mengenausweitung einher. Deshalb ist für eine Solidarische Ökonomie sehr wichtig, auch die Beziehungen zwischen den Unternehmen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern, solidarisch und demokratisch zu gestalten.

eco.nova Juni/Juli 2020, Seite 36-38