Zur Urform des Non-Profits

von Peter Ulrich Lehner

Als gesellschaftliches Grundmuster und rechtliche Fassung der Solidarität identifiziert Peter Ulrich Lehner den „Verein auf Gegenseitigkeit“. Als konkrete Ausformung existiert der „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“, dessen Mitglieder nicht nur die versicherbaren Risiken, sondern auch das Risikodes Geschäftserfolgs gemeinschaftlich miteinander tragen. Im Gegensatz zur Aktiengesellschaft sind die Gegenseitigkeitsvereine gemeinwirtschaftliche Unternehmen.

Im Wesentlichen gibt es nur zwei Grundmuster des Wirtschaftens;

  • Gemeinwirtschaftlichkeit: Niemand kann bei wirtschaftlichen Handlungen zulasten anderer(Erwerbs-)Vorteile für sich erzielen
  • Eigenwirtschaftlichkeit: Wirtschaftliche Handlungen werden mit der Absicht unternommen, (Erwerbs-)Vorteile für sich ohne Rücksicht darauf zu erzielen, zu wessen Lasten sie gehen.

Demgemäß werden auch Überschussgüter entweder

  • von der Gemeinschaft, die sie hervorgebracht hat, nach bestimmten(von der Gemeinschaft selbst festgelegten) Regeln ebenso gemeinschaftlich genutzt beziehungsweise verbraucht oder
  • von einer Person oder Wirtschaftseinheit auf eine andere Person oder Wirtschaftseinheit übertragen, wobei diese Übertragung
    • entweder als Raub, also als erzwungene Hergabe und gewaltsame Aneignung,
    • oder als Tausch, also als Verkauf und Kauf auf einem Markt (Vertrag durch schlüssige Handlungen) stattfinden kann.

Eigenvorsorge der armen Leute

Non-Profit-Organisationen gelten heute als die Alternative zur gewinndominierten neoliberalen Wirtschaft.Sie übernehmen immer mehr Aufgaben, die die Öffentliche Handangesichts der Dogmen vom Null-Defizit, vom „schlanken Staat“ und vom Vorrang der Kapitalinteressenauslagern musste. Gleichzeitig sehen sie sich durch die Kürzung öffentlicher Gelder einem Zwang zu „Professionalisierung“ und „Wettbewerb“ ausgesetzt, wodurch keine„Sozialisierung des Ökonomischen“bewirkt, sondern eine „Ökonomisierung des Sozialen“ erzwungen wird.Der Verein auf Gegenseitigkeit ist die älteste Form der Non-Profit-Organisation. Von seiner Entstehungsgeschichte her ist er heute nur im Versicherungswesen anzutreffen. Als Manifestation des gemeinwirtschaftlichen Grundmusters im Versicherungswesen kam ihm als ursprüngliche „Eigenvorsorge der armen Leute“ bei der Entstehung der modernen öffentlich-rechtlichen Sozialversicherung eine besondere Bedeutung zu.

selbstorganisiert, selbstkostenbasiert

Der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ist eine selbstorganisierte, bedarfsdeckungsorientierte und selbstkostenbasierte gemeinschaftliche Gefahrtragung, seine Mitgliedertragen nicht nur die versicherbaren Risiken, sondern auch das Risiko des Geschäftserfolgs gemeinschaftlich miteinander. Er ist damit eine rechtliche Verkörperung der Gemeinwirtschaftlichkeit. Damit kontrastiert er

mit der Aktiengesellschaft, die durch Übertragung beziehungsweise Übernahme einer Gefahr gegen Entgelt im Wege eines Tauschakts zwischen zwei Vertragspartnern gekennzeichnet ist und bei der das Risiko des Geschäftserfolgs einseitig beim Versicherer (als Nachfolger des mittelalterlichen Fernhandelskaufmanns)liegt. Sie ist eine rechtliche Verkörperung der Eigenwirtschaftlichkeit.Die Vereinsentwicklung im modernen Vorsorgewesen vollzog sich von ungewerkschaftlichen Spar- und Vorschussvereinen über vorgewerkschaftliche Standesvertretungen bis zu gewerkschaftlichen Kampforganisationen, die (zusammen mit sozial gesonnenen Fraktionen des Bürgertums) an der Durchsetzung der modernen Sozialversicherung beteiligt waren.Ihre Rechtsquellen sind das Ver-einspatent1852 (RGBl.253/1852), das Vereinsgesetz1867 (RGBl. 134/1867) und dasHilfskassengesetz1892 (RGBl.202/1892). Diese zuletzt erwähnte Rechtsquelle wurde auch vom gewerblichen Mittel-stand und vom Kleinbürgertum genutzt.

bedarfsdeckungsorientiert

Ein Gegenseitigkeitsverein ist eine sich selbst verwaltende Körperschaft mit juristischer Rechtspersönlichkeit und selbst gewählten Organen zur Bedarfsdeckung seiner Mitglieder bei offener Mitgliedschaft.Seine Finanzierung durch das Umlageverfahren geht auf das ursprüngliche Fehlen von Startkapital zurück und gewährleistet die Beitragsbemessung nach der Bedarfsdeckung auf Grundlage der Selbstkosten. Daraus folgt die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Mitglieder.Durch die Rechtsgrundlage des Vereinspatents 1852unterliegt er auchder so genannten materiellen Staatsaufsicht, die die Gewährleistung der jederzeitigen Erfüllbarkeit der zugesagten Leistungen kontrollieren soll.Nach den Non-Profit-Prinzipien des Gegenseitigkeitsvereins wurde die moderne gesetzliche Sozialversicherung gebildet. Sie hielt mit der Unfallversicherung (RGBl. 1/1888) und Krankenversicherung (RGBl.133/1888) für Arbeiter ihren Einzug.Im weiteren Verlauf wurde sie auf fast alle Beschäftigtengruppen ausgedehnt und durch die gesetzliche Pensionsversicherung (RGBl. 1/1907), die zunächst nur für Angestellte galt, zu einem umfassenden öffentlich-rechtlichen Vorsorgewesen ausgestaltet.Sein Finanzierungsverfahren unter-scheidet den Gegenseitigkeitsverein vom Verein nach dem Vereinsgesetz1867, das zwar nicht für Vorsorgevereine konzipiert war, aber nichtsdestoweniger für Vorsorgezwecke miss-braucht wurde. Es fehlte nicht nur die materielle Staatsaufsicht, sondern die Leistungen hingen auch vom aktuellen Stand des Vereinsvermögens und von den situativen Beschlüssen der Vereinsorgane ab. Daraus und aus Unzulänglichkeiten des Hilfskassengesetzes 1892 ergaben sich im weiteren Verlauf Missstände und Unzukömmlichkeiten, die teilweise durch gesetzgeberische Interventionen abgeschafft wurden.

Differenzierte steuerliche Behandlung

Soweit Missstände weiter bestanden,waren sie 1938 für die Nationalsozialisten willkommener Anlass, sich, wo es ging, des Vereinsvermögens für ihre politischen Zwecke zu bemächtigen. Sie schafften auch die differenzierte steuerliche Behandlung der Gegenseitigkeitsvereine ab und stellten sie, ungeachtet ihres anders gelagerten Wirtschaftszwecks, mit den gewinnorientierten Aktiengesellschaften gleich.

Diese Schlechterstellung erschwerte den Vereinen die Eigenkapitalbildung und erleichterte Jahrzehnte später ihre Verdrängung aus dem „technischen Geschäft“ des Versicherns. Sie waren gezwungen, es in eigens gegründete Aktiengesellschaften zu übertragen, an denen sie als Holding ihrer Mitglieder nur mehr neben Fremdkapitalgebern beteiligt sind. Eine Beeinträchtigung des Non-Profit-Prinzips, die allmählich auch in der EU die Erkenntnis aufdämmern lässt, dass dagegen angekämpft werden müsste.

Zur Person
Peter Ulrich Lehner war langjähriger geschäftsführender Redakteur, Vorstandsmitglied des IWK (Institut für Wissenschaft und Kunst), wo er u.a. im Rahmen der Seminarreihe “Studien zur ArbeiterInnenbewegung” einen Schwerpunkt zu „Umrisse einer nicht-kapitalistischen Ökonomie“ organisiert hat.

Der Artikel ist zuerst erschienen in: Dossier „Solidarische Ökonomie“ 03/2008  (Hrsg.: ksoe) https://www.ksoe.at/pages/ksoe/unsereangebote/publikationen/ksoedossiers/article/120640.html