von Peter Fleissner, zuerst gedruckt in Volksstimme, März 2022, S. 51-53
Es ist immer ein delikates Unternehmen, eine alternative Sicht auf die Welt vorzustellen, die von der traditionellen abweicht. Einerseits wird man dabei leicht zum Besserwisser, andererseits dürften die Chancen auf Erfolg gering sein. Dies gilt vor allem für politische Perspektiven, wo Kritik meist starke Emotionen auslöst. Dennoch möchte ich genau das tun.
Denn längerfristig betrachtet war die politische Arbeit der Linken in Österreich nicht von großen Erfolgen begleitet. Woran liegt das? Natürlich ist ihre Schwäche vor allem dem Neoliberalismus geschuldet, der trotz des Scheiterns seiner Politik immer noch großen Einfluss besitzt. Aber vielleicht macht auch die Suche nach alternativen Theorien Sinn.
Bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema ist mir ein neues Buch von Andreas Exner in die Hände gefallen, das auf unorthodoxe Art ideologische Positionen aus zwei Jahrhunderten aus dem Bereich der Anthropologie und Theologie mit den Problemen unserer Zeit verbindet. Ausgangspunkt sind die »Ökonomien der Gabe« (so der Titel des 550 Seiten starken Werks, das letztes Jahr beim Mandelbaum-Verlag in Wien erschienen ist). Der Untertitel ist Programm: »Frühsozialismus, Katholische Soziallehre und Solidarisches Wirtschaften«. Der studierte Ökologe und Politikwissenschaftler Exner hat dieses Buch in den Jahren 2018/2019 im Rahmen eines Stipendiums der Katholischen Sozialakademie Österreichs (KSÖ) verfasst. Leider wurde das Wirken der KSÖ im Vorjahr auf abrupte Weise beendet. Alle Dienstverträge wurden aufgelöst, obwohl die emanzipatorischen Bildungsveranstaltungen und das langfristige Eintreten für ein Bedingungsloses Grundeinkommen langsam Früchte getragen hätten.
Im Buch geht es um Solidarisches Wirtschaften, dessen Ursprung und Wandlungen im Lauf der Geschichte verfolgt werden. Exner entwickelt seine Thesen anhand einer Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die das Denken und die Praxis unserer Zeit dominiert. Statt eines liberalen Bekenntnisses zum Markt als Lösung aller Probleme arbeitet Exner die Tatsache heraus, dass unser gesellschaftliches Ganzes wesentlich auf sozialen Beziehungen beruht, die von den am Markt herrschenden Prozessen des Tauschs (z. B. Geld gegen Ware) vorausgesetzt werden und auch innerhalb der Betriebe wirksam sind (z. B. das Vertrauen in die Ehrlichkeit der Handels- oder Kooperationspartner*innen). Er verweist den homo oeconomicus, den rational handelnden Menschen, der seinen Nutzen maximiert, in den Bereich des Mythos. Genauso wenig stellt das bewusste quantifizierende Abwägen vor einer Entscheidung eher die Ausnahme als die Regel dar und entspricht nicht den kollektiven Gewohnheiten der Menschen. Auch heterodoxe ÖkonomInnen kommen immer häufiger zu diesem Schluss.
Die Kritik innerhalb der Wissenschaften ist weniger wirksam als jene, die aus der Praxis kommt, allerdings nicht aus der Praxis des industriellen Kapitalismus und seines Proletariats, sondern paradoxerweise aus der Praxis des bäuerlichen Wirtschaftens, das auf feudalen Verhältnissen beruhte. Sie ist laut Exner an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet und sucht weniger nach Gewinn als nach dem richtigen Maß des Wirtschaftens, nach der Suffizienz. Sie ist dominiert von der Autonomie der Produzierenden und stellt Gemeingüter gegenüber dem Privateigentum in den Vordergrund. Auch das Verhältnis zur Natur ist weniger instrumental bestimmt. Sie bleibt wichtigste Voraussetzung der Produktion. Damit gehen auch ethische Vorstellungen einher, die auf das Ganze der Welt ausgerichtet sind und eine »große« Moral bilden, die auf Menschen in allen ihren Beziehungen anwendbar ist. Der überraschende Schluss von Herrn Exner: In den zentralen ethischen Orientierungen des Christentums, das sich »an der historischen Schnittstelle zwischen der bäuerlichen Wirtschaftsweise feudalen Gepräges und der zu Jesu Zeit aufkommenden Ökonomie des Geldes« herausbildet, erhielt sich die Kritik am Geld und an der Warenwirtschaft in die Gegenwart, auch wenn es eigene Machtpositionen aufbaute oder die Mächtigen der Welt unterstützte.
Kirchliche Lehrmeinungen
Im Sinn dieser kirchlichen Tradition verlangte etwa der Theologe, Reformator und Bauernführer Thomas Müntzer schon im Jahrhundert (im Unterschied zu Martin Luther), dass alles gemeinsam oder gemeinschaftlich sei. Es »sollte einem jeden nach seiner Notdurft ausgeteilt werden nach Gelegenheit«. Diese Forderung wird mehr als 300 Jahre später von Marx wiederholt werden, als er in der Kritik des Gothaer Parteiprogramms für den Kommunismus das Prinzip aufstellte: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Das subversive Element, das je nach weltpolitischer Lage unterschiedlich stark in den Vordergrund der katholischen Soziallehre rückte, begleitete die Kirche durch die letzten beiden Jahrhunderte und schlug sich in den Enzykliken der Päpste nieder. Interessanterweise war der Frühsozialismus (oder utopischer Sozialismus, wie ihn Marx und Engels nannten) zum großen Teil vor 1848 offen christlich, auch wenn im Lauf des 19. Jahrhunderts die religiöse Grundlinie immer mehr verdeckt wurde. Übrig blieb »eine technokratische Variante der Aufklärung und eine mit ihr eng verbundene Vision der umfassenden Industrialisierung«.
Die Gabe
Ein weiterer Theoriestrang, den Exner referiert, bezieht sich auf die »Gabe«, ein nicht auf Geld beruhender Modus menschlicher Beziehungen, der als Geschenkökonomie in vielen frühen Gemeinschaften praktiziert wurde. Der Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss hat in den 1920er Jahren die Formen des Austauschs in frühen Gesellschaften untersucht und zeichnet mit der »Gabe« ein Bild, das sich von den modernen Warenbeziehungen wesentlich unterscheidet. Es geht weit über das Menschenbild des homo oeconomicus hinaus, legt andererseits aber auch die sozialen und emotionalen Grundlagen für die heutige Warenwirtschaft. In einer Ökonomie, die von der Gabe dominiert ist, bleiben die handelnden Personen und die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer Fülle erhalten. Sie leben in einer »Gemeinschaft«, in der die direkten Kontakte dominieren, und nicht in einer »Gesellschaft«, in der über das Geld ein bloß abstrakter Zusammenhang zwischen den Menschen aufrechterhalten wird, der aber nicht ausreichend ist, um das Ganze des menschlichen Lebens zu erfassen. Im Kapitalismus wird große »Moral« zur großen Ungleichheit, die frühere Einbettung der Menschen in die Natur wird durch eine »entbettete Wirtschaft« (Karl Polanyi) und durch den Raubbau an der Umwelt ersetzt, der vom Gewinnstreben beherrscht wird.
Im Rückblick zeigt Exner, dass die »katholische Soziallehre Reservoir und theoretisches Entwicklungsmilieu dieses sehr alten ethischen Kanons der Gabe« geworden ist, »der sogar noch weit hinter das Christentum und die Weltreligionen insgesamt zurückgeht« und mit Elementen einer verallgemeinerten Demokratie verbunden ist, die über das bloße Wahlrecht hinausreicht. Die offizielle politische Linie der Katholischen Kirche wird vor allem in Enzykliken festgeschrieben. Es dauerte aber bis 1891, als sich Leo XIII. in der Enzyklika »Rerum Novarum« konkret zu den sozialen Missständen, die mit der Entwicklung des Kapitalismus einhergingen, äußerte. Zu den Ursachen für die Verelendung der Lohnabhängigen schrieb er: »Raubgieriger Wucher« und die Konzentration wirtschaftlicher Macht haben das Elend noch verstärkt, »sodass eine kleine Zahl sehr reicher Menschen in die Lage versetzt worden ist, den ungezähmten Massen der Armen ein Joch aufzuerlegen, wenig besser als die Sklaverei selbst«, also eine Art Klassenkampf, für den er die KapitalistInnen verantwortlich machte. Der Staat müsste intervenieren. Neu im kirchlichen Diskurs war seine Ansicht, das Privateigentum (an Produktionsmitteln) sei nur dann gerechtfertigt, wenn es durch Arbeit erworben wurde. In Quadragesimo Anno orientierte Pius XI. 1931 allerdings auf eine berufsständische Gesellschaftsordnung, die dem Faschismus nahestand.
Dann wendet sich das Blatt (ich beschränke mich auf einige Highlights): Johannes XXIII. tritt in Mater et Magistra (1961) für die Demokratisierung der Wirtschaft ein. In den kirchlichen Dokumenten Gaudium et Spes (1965), in den Enzykliken Populorum Progressio von Paul VI. (1967) und in Laborem Exercens von Johannes Paul II. (1981) rücken Gemeinwohl und Demokratie stärker in den Vordergrund. Schließlich wird 2013 im Handschreiben Evangelii Gaudium von Papst Franziskus die Kritik am Kapitalismus dominant (»Diese Wirtschaft tötet«). In der Enzyklika Laudato Sí geht er 2015 im Detail auf die Notwendigkeit ein, die ökologischen Probleme gemeinsam mit der sozialen Frage zu lösen und die Globalisierung nachhaltig und menschenwürdig zu gestalten. Elemente der Befreiungstheologie und genossenschaftliches Wirtschaften werden salonfähig.
Genossenschaften
Im Zuge der Sozialforen und Ökologiebewegungen wird eine andere Zukunft frei von der kapitalistischen Zwangsjacke verlangt, die mit alternativen Produktionsweisen einhergeht und deren Einflussbereich einzelne Ideologien bei weitem übersteigt. Unter dem Sammelbegriff »Solidarische Ökonomie« wurden an verschiedenen Punkten der Erde Genossenschaften entwickelt, in denen die als überflüssig betrachteten Prinzipien der landwirtschaftlichen Produktionsweise zu neuem Leben erwachten. Exner untersucht nicht nur ihre theoretischen Grundlagen, sondern versucht, einen globalen Überblick über ihre heutige Lage zu geben. Es ist interessant, dass die Linke im vergangenen Jahrhundert immer wieder der Entwicklung von Genossenschaften Raum gegeben hat. Man denke z. B. an den genossenschaftlich geprägten Sozialismus von Charles Fourier in Frankreich oder an Robert Owen in England, an die Siedlerbewegung in Wien oder an die Kibbuzim in Palästina. Unter dem Namen Solidarische Ökonomie gibt es heute Genossenschaften in allen Teilen der Welt, die an die klassische bäuerliche Wirtschaftsweise anknüpfen, aber zugleich anpassungsfähig, technologisch effektiv, ökologisch und demokratisch organisiert sind. Es ist allerdings eine Gratwanderung, sich von kapitalistischen Fehlentwicklungen abzugrenzen. Genossenschaften sind keine seltene Erscheinung mehr. Die Vereinten Nationen zählten 2013/14 2,6 Millionen Genossenschaften in 145 Ländern mit insgesamt mehr als einer Milliarde Mitglieder.
Das Buch von Exner könnte eine theoretische Grundlage für die Solidarische Ökonomie abgeben, die auf ein gutes Leben für alle abzielt und eine praktische Alternative zum Kapitalismus bildet.
Verlagsinformation Mandelbaum
29.00 €
558 Seiten
Format: 13,5 x 21
englische Broschur
ISBN: 978385476-895-1
Erschienen: November 2021